© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/08 31. Oktober 2008

Glasfassaden der Unfreiheit
Das deutsche Elend wird zum europäischen: Moralpolizisten sollen über die Geschichte wachen
Doris Neujahr

Vor knapp zwei Jahren, als die Bundesrepublik die Präsidentschaft in der Europäischen Union übernahm, kündigte Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) ein europaweites Gesetz gegen die Holocaust-Leugnung an (JF 3/07, "Europaweite Antifa-Klausel"). Wegen des Widerstands aus mehreren Mitgliedsländern trat sie nach einigen Monaten den taktischen Rückzug an und beschränkte sich auf neue Vorschriften gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit etc. Vom Ursprungsprojekt war eineinhalb Jahr lang nichts zu hören, doch nach aller Erfahrung war damit zu rechnen, daß hinter den Kulissen daran weitergewerkelt würde.

Inzwischen haben sich die Befürchtungen bestätigt. Es steht die Verabschiedung eines "Rahmenbeschlusses" durch Brüssel bevor, der anschließend in nationales Recht umgesetzt werden müßte. Er sieht für die "öffentliche Billigung, die Negation oder die grobe Banalisierung von Genozid-Verbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen" Gefängnisstrafen zwischen einem und drei Jahren vor. Durch die Ausweitung der Strafandrohung für Holocaust-Leugnung auf weitere Genozide und historische Vorgänge ist die Vorschrift noch schlimmer geworden. Qualitativ stellt sie einen "Gummiparagraphen" dar, mit dem ein politisches bzw. Gesinnungsstrafrecht auf europäischer Ebene etabliert würde.

Nicht die EU-Kommission hat den Plan an den Tag gebracht, auch kein EU-Parlamentarier - die Brüsseler Glasfassaden stehen mitnichten für demokratische Transparenz, sondern für kompromißlose Härte gegen die eigenen Bürger - und auch kein investigativer ("mutiger") Vertreter der "freien Presse" in Deutschland. Erst auf einem Umweg ist er öffentlich geworden: durch eine Protestresolution internationaler Wissenschaftler, den "Appell von Blois".

In der zwischen Orléans und Tours an der Loire gelegenen Stadt Blois hatten sich auf Einladung des Bürgermeisters und früheren Kulturministers Jack Lang europäische Historiker versammelt, um sich gegen die drohende Einschränkung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit zu wehren. In ihrer Erklärung heißt es, daß es in einem freien Staat keiner politischen Autorität zustehe, die historische Wahrheit zu definieren. Alle Historiker sollten ihre Kräfte in ihren jeweiligen Ländern sammeln, den Appell unterzeichnen und Strukturen aufbauen, "um die Pläne für Gesetze zum historischen Erinnern aufzuhalten". Der Schlußsatz lautet: "In einer Demokratie ist die Freiheit der Geschichte die Freiheit aller."

Zu den Unterzeichnern gehören aus Deutschland die Ägyptologen und Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann sowie der zuletzt in Berlin lehrende Historiker Heinrich August Winkler. Ein anderer Mitunterzeichner, der britische Historiker Timothy Garton Ash, hat im Guardian die Möglichkeit einer "Erinnerungspolizei" in Aussicht gestellt und namentlich Brigitte Zypries scharf angegriffen. Ash fürchtet eine Geschichtswissenschaft, die sich nach ihrem politischen Nutz- und Tauschwert richtet. Ob die Haltung der deutschen Historiker ähnlich konsequent ist wie die des britischen Kollegen, oder ob es ihnen vor allem darum geht, die vermeintliche Singularität des Holocaust vor der Banalisierung zu bewahren, läßt sich nur im Einzelfall entscheiden. Brüssel jedenfalls will durch Sanktionsdrohungen ein verbindliches, transnationales, kollektives Gedächtnis etablieren, das die eigenmächtige Politik der Kommission willenlos affirmiert. Die Entwicklung kündigte sich spätestens im Jahr 2000 mit der "Holocaust-Konferenz" von Stockholm und dem großangelegten europäischen Forschungsprogramm "Okkupation in Europa: Die Wirkung (Impact) der nationalsozialistischen und faschistischen Herrschaft" an.

Das deutsche Elend - der Negativbezug auf die eigene Geschichte - wird mehr und mehr zum europäischen. Auch ausländische Politiker haben die Möglichkeit entdeckt, auf dem Umweg über Brüssel Beschlüsse durchzupeitschen, die zu Hause unpopulär sind und das Wahlvolk entmündigen. Das Lieblingsbuch der EU-Anhänger, "Der Europäische Traum" von Jeremy Rifkin, nennt als dessen Kennzeichen die Achtung der Menschenrechte, sozialen Ausgleich, Friedfertigkeit nach innen und außen sowie Nachhaltig- und Gemeinschaftlichkeit. Die Brüsseler Geschichts-, Verhaltens- und Strafrechtsdogmatiker behaupten, in genau diesem Sinne zu handeln und dazu das geistig-kulturelle Erbe Europas zu aktualisieren. In Wahrheit füllen sie ein geistig-kulturelles Vakuum mit giftigen Nebelschwaden.

Als Ortega y Gasset vor achtzig Jahren die Krise des modernen Europa diagnostizierte, wollte er trotzdem von den Prophezeiungen Spenglers nichts wissen. Die USA und die Sowjetunion seien bloß "Randgebiete der europäischen Herrschaft" und, weil ohne eigenen Geist, keine Mächte der Zukunft. In einem integrierten Europa, das den Nationalismus überwindet, würden eine neue Vitalität freigesetzt und Geist und Kultur sich verjüngen.

Dreißig Jahre danach hatte sein spanischer Landsmann Luis Diez del Corral in "Der Raub der Europa" keinen Grund mehr, Ortegas Optimismus zu teilen. In Osteuropa ging Rußland daran, das Nationalbewußtsein und die nationale Wirklichkeit brutal durch Klassenbewußtsein zu ersetzen. Westeuropa war unter die Fittiche der USA geschlüpft, die strenge moralistische, kriegerisch-politische Kategorien ins politische und gesellschaftliche Leben einführten. Im Kalten Krieg mochte das nützlich sein, aber es fehlte die Vorstellung vom vielschichtigen und empfindlichen Geflecht der Traditionen, Grenzen, Macht- und Kulturformen, Rivalitäten und Bündnissen, aus denen die Welt der europäischen Nationen bestand.

Das Ergebnis beschrieb der Amerikaner John Ney 1971 in dem melancholischen Buch "Die europäische Kapitulation", wo Euro­pa als geistige und kulturelle US-Kolonie erscheint. Am schlimmsten war die Lage in Deutschland. Einzig die stolze Schweiz sei den USA "ebenbürtig oder überlegen". Der Zorn der Eurokraten, den die Schweiz immer wieder auf sich zieht, ist historisch also gut fundiert.

Das vereinte, innerlich aber unfrei gebliebene Europa, das die moralistischen Kategorien, statt sie zu überwinden, nun durch Erinnerungspolizisten kontrollieren lassen will, erstickt - über ein mögliches Ende der US-Dominanz hinaus - die geistige Freiheit und damit den Rest seiner Vitalität. Das Zypries-EU-Europa ist ein Alptraum!

Der komplette Text des Appells von Blois findet sich im Internet unter www.lph-asso.fr/articles/50.html

Bild: Honoré Daumier, Der Angeklagte hat das Wort (Detail), Lithographie, 1835: "Die Freiheit der Geschichte ist die Freiheit aller"

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