© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/08 05. Dezember 2008

Für eine neue Ostpolitik
Nato-Erweiterung: Zwischen dem Westen und Rußland droht ein neuer Kalter Krieg
Michael Wiesberg

Der jüngste, einseitige Vorstoß der USA, die Nato unter Umgehung einschlägiger Beschlüsse um Georgien und die Ukraine zu erweitern, wirft eine Reihe grundsätzlicher Fragen auf, denen sich die europäischen Bündnispartner der USA und damit auch Deutschland in Zukunft zu stellen haben. Dazu gehört vor allem die Frage, wie das künftige transatlantische Verhältnis gestaltet werden soll. Rußland läßt keinen Zweifel daran, daß es eine Nato-Erweiterung in Richtung Georgien und Ukraine als offene Provokation betrachtet. Damit steht die Gefahr einer neuen Eiszeit, möglicherweise eines neuen Kalten Krieges mit Moskau konkret im Raum.

Eine derartige Entwicklung kann aus vielerlei Gründen nicht im europäischen und schon gar nicht im deutschen Interesse sein. Bereits jetzt sind die Beziehungen aufgrund des Kaukasuskrieges im August dieses Jahres und der geplanten US-Raketensysteme in Osteuropa angespannt. Rußland sieht sich seitens der Nato, insbesondere aber durch die USA mehr und mehr bedrängt. So beklagte der russische Präsident Dimitri Medwedjew in seiner Rede zur Lage der Nation am 5. November, daß an "einem globalen Raketenabwehrsystem gearbeitet", Rußland mit "Militärbasen eingekreist" und die Nato hemmungslos erweitert" werde, und verwies auf entsprechende russische Gegenmaßnahmen, die er als "erzwungen" bezeichnete. Wie schon sein Amtsvorgänger Putin verwies Medwedjew darauf, daß sich die Welt "nicht von einer Hauptstadt aus regieren" lasse, und forderte die Errichtung einer "globalen Sicherheitsarchitektur", die Rußland, die USA und die EU umfassen sollte.

Bisher haben die USA derartigen Avancen nicht nur die kalte Schulter gezeigt, sondern ihre Politik der Nadelstiche gegen russische Sicherheitsinteressen unbeeindruckt fortgesetzt. Welche (geopolitischen) Motive die US-Politik hier leiten, ist selbst für die europäischen Partner der USA nicht immer transparent. Diese Irritationen sind unter anderem Ausdruck der Tatsache, daß eine Supermacht wie die USA Dynamiken eigener Art unterworfen ist und, wie es der Berliner Politologe Herfried Münkler ausdrückte, einem "permanenten Interventionszwang" unterliegt. Ob die USA ihre Rolle als "Supermacht" behaupten können, wird laut Münkler entscheidend von deren Fähigkeit abhängen, "die Kapitalströme der Weltwirtschaft zu lenken" und die "Rhythmen der Weltwirtschaft zu bestimmen".

Diese Fähigkeit ist nicht nur vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzkrise in Frage gestellt. So prognostiziert der jüngste Bericht ("Global Trends 2025") des National Intelligence Council (NIC), daß sich der Übergang in ein "neues System" innerhalb der nächsten 20 Jahre abzeichne. In diesem System würden die USA zwar der weltweit "wichtigste Akteur" bleiben, aber weniger dominant als bisher sein. Ihren Status werden die USA aber nur dann verteidigen können, wenn sie im "eurasischen Raum", in dem etwa drei Viertel der Weltbevölkerung leben, weiterhin eine entscheidende Rolle spielen. Es dürfte kein Zufall sein, daß alle Herausforderer der USA (China, Indien und Rußland) in ebendiesem Raum zu finden sind. Verlieren die USA hier ihren Einfluß, dann kommt dies einem Verlust ihrer globalen Hegemoniestellung gleich.

Erschwerend für die USA kommt hinzu, daß sie hier als "raumfremde Macht" auftreten müssen, sprich: sich auf einer Landmasse behaupten müssen, auf der sie nicht zu Hause und entsprechend anfällig sind. Diese Konstellation zwingt die USA zu ständigen Zügen auf dem "eurasischen Schachbrett", wie es der US-Geostratege und Obama-Berater Zbigniew Brzezinski bezeichnet hat. Daß diese Züge nicht selten gegen Rußland gerichtet sind, liegt vor allem an dessen zentraler Position auf der eurasischen Landmasse.

Nun mag man einwenden, daß Rußland keineswegs die stärkste Macht im eurasischen Raum ist und wohl auch in Zukunft kaum mit der EU oder China wird konkurrieren können. Warum den USA dennoch an einer nachhaltigen Schwächung Rußlands gelegen ist, machte der Publizist Hauke Ritz deutlich: Rußland sei aufgrund seiner geographischen Position und seines Rohstoffreichtums in der Lage, "eurasische Kooperationen" zu begründen, etwa in Form "vertiefter Wirtschaftsbeziehungen" mit der EU. Der damit verbundene "Unabhängigkeitsgewinn" Europas könnte à la longue zu einer Gefährdung der transatlantischen Orientierung führen.

Daß diese Sicht einige Plausibilität für sich beanspruchen kann, zeigt unter anderem die Komplementarität mancher Interessen Europas und Rußlands. Europa kann zum Beispiel ohne Rußland seine Energieversorgung nicht wirklich sichern, und in Rußland herrscht eine große Nachfrage nach europäischer Technik. Wie stark diese Komplementarität der Interessen US-Geostrategen beunruhigt, zeigt unter anderem Brzezinskis 2007 erschienenes Buch "The second chance", in dem er nahelegt, Rußland mittels Absprachen mit Europa und China mehr oder weniger zu isolieren. Die von den USA betriebene Nato-Osterweiterung entspricht dieser "Empfehlung" Brzezinskis insofern, als sie auf eine weitere Beschneidung der russischen Einflußsphäre hinausläuft.

Eine derartige Strategie, die auf die Schaffung eines von den USA dominierten, kontinentübergreifenden Sicherheitssystems abzielt, kann freilich nur dann Erfolg haben, wenn sie von Europa vorbehaltlos unterstützt wird. Europa, im NIC-Bericht bezeichnenderweise abschätzig als "humpelnder Gigant" bezeichnet, der seine wirtschaftliche nicht in politische Macht umzumünzen in der Lage sei, wird deshalb früher oder später zu einer eindeutigen Standortbestimmung gezwungen sein: Läßt man sich auf die Hegemoniallogik der USA ein, käme dies einer Aufgabe europäischer Interessen gleich. Eine derartige Selbstabdankung ist allerdings keine zukunftsträchtige politische Option. Deshalb wird es höchste Zeit, daß der "humpelnde Gigant" Europa richtig zu gehen lernt.

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