© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/08-01/09 19./26. Dezember 2008

Ein Kanzler für den Ernstfall
Helmut Schmidt: Der frühere Regierungschef gilt vielen als idealtypischer Politiker, doch er war immer auch ein großer Staatsschauspieler
Thorsten Hinz

Am 30. November flimmerte Helmut Schmidt zur besten Sendezeit über den Bildschirm - im Fernsehdrama "Mogadischu", das von der Entführung und Befreiung der Landshut-Maschine im "Deutschen Herbst" 1977 handelte. Den Scheitel scharf gezogen, die Bewegungen knapp und markant ("zackig"), der Griff nach der Zigarette energisch, die Sprache klar, präzise. Er werde nicht dulden, daß diese Verbrecher den Staat kaputtmachten, ruft er seinen Ministern zu. Er zitiert den Chef der Spezialeinheit GSG-9, Ulrich Wegener, zu sich und liest aus dessen Personalakte vor. Wegener war aus der DDR geflohen, wo er Flugblätter gegen die SED verteilt und 15 Monate eingesessen hatte. Schmidt, sinngemäß: "Sie sind ein tapferer Mann! Tapfere Männer brauche ich jetzt! Holen Sie mir die Geiseln da raus!" - Wann waren zuletzt im deutschen Film solche Töne zu hören gewesen?

Natürlich war nicht Helmut Schmidt zu sehen, der am Dienstag 90 Jahre alt wird, sondern der Schauspieler Christian Berkel. Dem aber gelang es, die Vorstellungen ins Bild zu setzen, die die Deutschen vom Bundeskanzler a. D. 26 Jahre nach dessen Sturz haben: verantwortungsfähig, kompetent, handlungsstark, in einsam durchwachten Nächten um das Gleichgewicht zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik ringend, sich in Sorge um Land und Leute verzehrend. Johann Gottlieb Fichtes Forderung mußte er demnach als persönlichen Auftrag begreifen: "Und handeln sollst Du so, als hinge / von Dir und Deinem Tun allein / das Schicksal ab der deutschen Dinge, / und die Verantwortung wär' Dein." Das sind Eigenschaften des charismatischen Herrschers. Demokratie hin oder her: So wünschen die Menschen sich ihren Staatslenker, der sie ruhig schlafen läßt. Der ehemalige Hamburger Innensenator, SPD-Fraktionschef im Bundestag, Verteidigungs-, Finanz- und Superminister Helmut Schmidt, der von 1974 bis 1982 als Bundeskanzler amtierte, stellt im Verständnis der Deutschen das Gegenbild zur aktuellen politischen Klasse dar. Entspricht dieser Eindruck einem Wunsch- oder doch dem Realbild?

Keine Frage, Helmut Schmidt war und ist auch ein Staatsschauspieler von hohen Graden, oft kopiert - zuletzt von Gerhard Schröder und Wolfgang Clement -, doch nie erreicht. Es ist vielfach bezeugt, daß er bei aller Selbstsicherheit, die er bemüht war auszustrahlen, um Bestätigung und Zuspruch buhlte. Das Amt des Bundeskanzlers, das er nie anders als eine große Last beschrieb, hat er bewußt angestrebt, und groß war seine Sorge, sein Lebenstraum würde unerfüllt bleiben. Der preußische Pflichtmensch hat seine Außenwirkung sorgsam inszeniert und legte Wert darauf, als personifiziertes Gegenteil von Willy Brandt zu gelten, der in der öffentlichen Wahrnehmung den Schlendrian verkörperte. Bei Günter Gaus liest es sich anders. Brandt verfügte anders als Schmidt über die Gabe der Selbstironie. Seine Termine habe er pünktlich eingehalten, während Schmidt regelmäßig zu spät kam und die Verspätungen kokett zum Anlaß nahm, über seine Arbeitslast zu klagen.

Aber auch das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Ein vorgesetzter Offizier schrieb 1940 über den 21 Jahre alten Helmut Schmidt: "Gute Erscheinung. Sehr straffes, sicheres und gewandtes Auftreten. Geistig und körperlich hervorragend veranlagt - seine Veranlagung, sein Fleiß und sein fester Wille lassen ihn hervorragende Leistungen zeigen. Infolge seiner Veranlagung und Leistungen neigt er jedoch zu einer gewissen Überheblichkeit." Im letzten Kriegsjahr ergänzte ein Untergebener: "Alles mit einem Tempo, das einem zuerst den Atem verschlägt. Er kümmert sich um alles, verlangt viel von sich und den anderen." Die Deutsche Wehrmacht war trotz ihrer tragischen Verstrickungen zur Reifung der Persönlichkeit wohl doch nicht die schlechteste Schule. Man vergleiche dazu Schmidt-Fotos mit denen von früh zur Dicklichkeit neigenden, in Kungelrunden geformten Nachwuchspolitikern mit ihren vom Alkohol aufgedunsenen Gesichtern.

Erst nach dem Krieg konnte Schmidt studieren. Von 1939 bis 1945 war er Soldat, zuletzt im Rang des Oberleutnants. An der Ostfront erlitt er leichte Erfrierungen, im März 1945 wurde er an der Westfront verwundet. Er studierte Volks- und Staatswissenschaft in Hamburg, seine Diplomarbeit verfaßte er 1949 bei Karl Schiller über "Die Währungsreform in Japan und Deutschland im Vergleich". Schmidt hatte den Anspruch, die Politik theoretisch zu durchdringen und zu begründen, sei es als Verteidigung-, Finanz- und Wirtschaftsexperte. Seine Kompetenz in Finanz- und Militärfragen wurde weltweit anerkannt. Schmidt verstand sich als rationaler, als Realpolitiker. Von Menschenrechtskampagnen gegen die Sowjetunion oder China hielt und hält er nichts. Allerdings entging auch er nicht der Versuchung, moralischen Erpressungsversuchen nachzugeben, die auf deutsche Schuld rekurrierten, und sich für solche Einsichten preisen zu lassen. Das führte unter anderem zu schlampig ausgehandelten Kreditabkommen, die am Ende weder den damaligen Ostblockstaaten noch Deutschland etwas nützten.

Andererseits wurde er heftig attackiert, als er auf die Verhängung des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981 zurückhaltend reagierte, den von der amerikanischen Regierung eingeschlagenen Konfrontationskurs ablehnte und zur polnischen Opposition Abstand hielt. Darin folgte er seinen realpolitischen Einsichten. Die 1945 in Jalta gezogen Grenze zwischen den Blöcken erschien ihm bis auf weiteres unverrückbar, schließlich wurde die Sowjetunion damals nicht von Gorbatschow, sondern von Breschnew regiert. Noch im September 1986, in seiner Abschiedsrede im Bundestag, nannte er die Sowjetunion "einen mächtigen und gefährlichen Nachbarn". Insofern war die Intervention des polnischen Militärs gegenüber einer sowjetischen Invasion für ihn das kleinere Übel.

Ein weiterer Hintergrund war die deutsche Frage. Schmidt fürchtete einen neuen Kalten Krieg, der die deutsch-deutschen Beziehungen schwer beschädigen würde. Deutschland-Politik ließ sich nur mit Billigung der Sowjetunion machen, diese durfte sich in ihrem Besitzstand nicht bedroht fühlen. Oder, wie Egon Bahr es in seinen Memoiren hart formulierte: So wie die Deutschen im Interesse des Weltfriedens vorläufig ihre Teilung akzeptierten, mußten die Polen sich mit ihrer Einbindung in den Ostblock abfinden. Man hatte die Realitäten zu akzeptieren, ehe man sie - vielleicht - langfristig und evolutionär verändern konnte.

Günter Gaus, von Willy Brandt ernannter Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in Ost-Berlin und Schmidt in Abneigung verbunden, meinte, der Kanzler habe sich für die DDR gar nicht interessiert. Gemäß dem Spruch: "Was soll ich zu Schmidtchen (Honecker), wenn ich zu Schmidt (Breschnew) gehen kann", habe er Kontakte zu Moskau für sinnvoller gehalten. Immerhin kam es unter Schmidt zu deutsch-deutschen Geheimverhandlungen, die vor allem in der Schweiz stattfanden und zum sogenannten "Zürcher Modell" führten.

Die DDR stand Ende der siebziger Jahre vor dem Verlust der internationalen Kreditwürdigkeit. Es ging darum, großzügige Kredite zu gewähren und als Gegenleistung humanitäre Erleichterungen festzuschreiben. Das "Zürcher Modell" gehörte zur Erbmasse, die Helmut Kohl 1982 von Schmidt übernahm. Zum Praxistest kam es nicht, denn der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß verschaffte der DDR überraschend einen Milliardenkredit, ohne ihr Gegenleistungen abzuzwingen. Gerhard Löwenthal war damals fassungslos.

Über die Wiedervereinigung schrieb Schmidt rückblickend: "Mir ist dabei immer eine Skulptur von Ernst Barlach im Bewußtsein gewesen: Zwei Menschen begegnen sich, der eine gebeugt, kummervoll, aber mit Hoffnung dem anderen ins Antlitz schauend, der ihn aufrecht und ernst umarmt - ein Bild der Heimkehr nach langer Irrfahrt. Wenn der Bruder, der zu Unrecht lange Jahrzehnte im Gefängnis war, schließlich vor unserer Tür steht, dann bittet man ihn herein, man teilt brüderlich mit ihm - und fragt nicht nach den Kosten. Freiheit und Brüderlichkeit gehören zusammen. Seit dem 9. November 1989 war kein Fehler schlimmer als die Unterlassung des Appells an unsere Brüderlichkeit und Opferbereitschaft." Der solche Worte fand, der soll die deutsche Frage nur geschäftsmäßig betrachtet haben?

Schmidt war und ist Atlantiker aus Überzeugung. Die engen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten waren für ihn im Kalten Krieg die Überlebensgarantie für Westeuropa. Diese Überzeugung ließ ihn den Nato-Doppelbeschluß - zuerst Verhandlungen mit der Sowjetunion, im Falle des Scheiterns die Stationierung von Mittelstreckenraketen - auch dann noch durchfechten, als klar war, daß der amerikanischen Regierung unter Ronald Reagan die Aufrüstung wichtiger war als die Abrüstung. Als Vasall verstand er sich dennoch nicht. 1984 meinte er, daß amerikanischen Truppen nach Europa "eigentlich nicht hingehören". In den vergangenen Jahren warnte er vor den Anmaßungen des "Neuen Rom", das der Welt sein Gesetz diktieren wolle. Seine Kritik am internationalen Finanzsystem - das ein angelsächsisches ist - war lange vor Ausbruch der Finanzkrise vernehmbar.

Ein "Eiserner Kanzler", als der er vielen in seinem 90. Lebensjahr erscheint, ist Schmidt indes nie gewesen. Die Jusos und die Achtundsechziger waren ihm ein Greuel, doch ihre Ausbreitung in der eigenen Partei hat er nicht verhindern können. Die Staatsverschuldung, die unter dem Nicht-Ökonomen Brandt zu explodieren begonnen hatte, stieg unter seiner Kanzlerschaft weiter an. Gegen die Lobbygruppen erwies er sich als machtlos. Seine keynesianistischen Konjunkturprogramme verpufften. Und gegen seine besseren Einsichten nahm die Ausländerpolitik unter seiner Kanzlerschaft ihren bekannten, katastrophalen Verlauf.

Trotzdem bleibt der Eindruck eines Politikers, für den die Politik der Ernstfall war und dem man zutraute, auch unter extremen Bedingungen standzuhalten. Betrachtet man seine Nachfolger, wird einem bange.

Foto: Bundeskanzler Helmut Schmidt im Jahr 1978: "Gute Erscheinung. Sehr straffes, sicheres und gewandtes Auftreten. Geistig und körperlich hervorragend veranlagt."

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