© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/08-01/09 19./26. Dezember 2008

Die Inkorporation der deutschen Jugend
Vor 75 Jahren wurde das Evangelische Jugendwerk in die Hitlerjugend eingegliedert, die erst danach zur wirklichen Massenorganisation wurde
Manfred Müller

Baldur von Schirach, Reichsjugendführer der NSDAP und seit Mai 1933 Jugendführer des Deutschen Reiches, setzte 1933 alles daran, seine jakobinisch-zentralistische Idee von der Einheit der deutschen Jugend durchzusetzen. Er verwarf die Vorstellung, in einem nationalsozialistisch geführten Dachverband könnten Hitlerjugend, konfessionelle Jugendverbände, bündische Jugend, Sportjugend und berufsständische Jugendorganisationen miteinander wetteifern. Nach der Beseitigung der marxistisch orientierten Arbeiterjugendverbände und nach Auflösung (bzw. Selbstauflösung) der bündischen Jugend faßte Schirach die schnelle Eingliederung der organisierten evangelischen Jugend (etwa 800.000 Mitglieder) ins Auge. Er wußte, daß ähnliches sich bei der katholischen Jugend (etwa 1,5 Millionen Mitglieder) weit schwieriger gestalten würde, auch wegen der Schutzbestimmungen des Reichskonkordats.

Ansatzpunkt für eine Zerstörung der konfessionellen Jugendverbände war ein Verbot, das Schirach am 29. Juli 1933 verfügte. Doppelmitgliedschaft in der Hitler-Jugend und einem konfessionellen Verband sollte nicht mehr möglich sein. Die Hinneigung zum Nationalsozialismus war bei der evangelischen Jugend (wie im gesamten Protestantismus) stärker ausgeprägt als bei den katholischen Verbänden.

Die evangelischen Jugendverbände wurden im Evangelischen Jugendwerk Deutschlands zusammengefaßt. In den Verhandlungen mit Schirach schlug man die korporative Eingliederung des Evangelischen Jugendwerks in die HJ vor, um so relativ viel vom Eigenleben der Bünde bewahren zu können. Erich Stange der Reichsführer des Evangelischen Jugendwerks, sah ein "Freundschaftsverhältnis" zur Hitlerjugend als erreichbar an, wenn es gelänge, den Verhandlungspartnern folgende Grundauffassung evangelischer Jugendarbeit zu vermitteln: "Der junge Nationalsozialist, der in unseren Reihen erzogen wird, setzt sich rückhaltlos für die volksmissionarische Aufgabe seiner Kirche ein." Von all dem wollte Schirach nichts wissen.

Stange und andere evangelische Jugendführer versprachen sich viel von vermittelnden Bemühungen des zum evangelischen Reichsbischof aufgerückten Wehrkreispfarrers Ludwig Müller und unterstellten ihm das Evangelische Jugendwerk. Müller handelte mit Schirach ein Abkommen aus, das allerdings von der Führerschaft des Evangelischen Jugendwerks mehrheitlich abgelehnt wurde. Dennoch unterschrieb Müller am 19. Dezember 1933 das Abkommen "über die Eingliederung der evangelischen Jugend in die Hitlerjugend". Nur Mitglieder der HJ konnten fortan Mitglied des Evangelischen Jugendwerkes sein. Diesem blieb nur die "Betätigung in erzieherischer und kirchlicher Hinsicht".

Alles, was bisher das Jugendleben nach damaliger Auffassung so attraktiv gemacht hatte (Fahrt, Lager, Geländespiel, Geländesport, Heimabende in der Art der bündischen Jugend usw.), außerdem die politische Erziehung, war nun dem Evangelischen Jugendwerk nicht mehr erlaubt - ein Fiasko für die hochfliegenden volksmissionarischen Vorstellungen evangelischer Jugendführer. Einige evangelische Jugendverbände wie der Schülerbund BK (Bibelkreis) lösten sich selbst auf, um ihren Mitgliedern die Überführung in die HJ zu solchen Bedingungen zu ersparen.

Ende 1933 konnte von Schirach seinem Führer eine Erfolgsmeldung machen. Aus den 107.956 Mitgliedern vom Jahresbeginn 1933 waren nun 2,3 Millionen Mitglieder der Hitlerjugend geworden. Dieser Riesenzuwachs ging zurück auf die starke Sogwirkung, die sich aus der euphorischen Aufbruchstimmung von 1933 ergab. Zum anderen wird man auch die Mischung aus Druck, Diplomatie und Täuschung berücksichtigen müssen, die Schirach zielbewußt einzusetzen verstand.

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