© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/09 02. Januar 2009

Woher wir kommen
Deutsche Geschichte: Die neue Suche nach den historischen Wurzeln unserer Nation
Karlheinz Weissmann

Als 1922 Rudolf Borchardts Übersetzung der „Germania“ des Tacitus erschien, trug sie den Titel „Deutschland“. Das war ungewöhnlich, denn man trennte selbst in völkischen Kreisen zwischen dem älteren Germanien, dem späteren und dem gegenwärtigen Deutschland. Borchardt griff aber auf eine Redeweise zurück, die sich bis zum Anfang der modernen deutschen Nationalbewegung zurückverfolgen läßt, die im Gefolge von Humanismus und Reformation entstand. Von den „alten Teutschen“ sprachen Hutten und Luther genauso wie die Barock-Patrioten oder Klopstock und noch Arndt, um die lange, über zweitausend Jahre währende Kontinuität zu betonen.

Die Annahme solcher Kontinuität war bis in Borchardts Zeit Allgemeingut, auf der Rechten sowieso, aber auch im Liberalismus und selbst auf der Linken, wo man im Zweifel Friedrich Engels und dessen Lob für die „militärische Demokratie“ der freien germanischen Stämme zitieren konnte. Das NS-Regime hat diese Anschauung überzogen, aber nicht vollständig diskreditiert.

Auch die Geschichtswerke der Nachkriegszeit begannen ihren Durchgang mit einem Abriß der germanischen Frühzeit, und in der letzten Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte, die noch 1988 von der Akademie der Wissenschaften der DDR veranlaßt wurde, hieß es: „Die ältere deutsche Geschichte ist ohne Karl den Großen, Otto I. oder Friedrich II. ebensowenig denkbar und darstellbar wie ohne Arminius, den legendären Anführer freier Bauern im antirömischen Aufstand.“   

Solche Sätze hätte man in westdeutschen Büchern da schon vergeblich gesucht. Die Bundesrepublik entdeckte neuerdings den Multikulturalismus als Leitnorm und empfand den Verweis auf einen Zusammenhang mit den Germanen als verdächtig, mindestens als peinlich. Daran änderte auch die Wiedervereinigung nichts. Als 1996 eine Tagung über den Ort der Varusschlacht (natürlich sprach niemand von „Hermannsschlacht“) stattfand, erklärte der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder, daß 9 n. Chr. das „ruhmreiche römische Heer von einer Horde ungebildeter Mitteleuropäer besiegt“ worden sei. Den Römern gebührte Dank für die geleistete Entwicklungshilfe, die aus unseren tumben Vorfahren zivilisierte zu machen suchte, ein Projekt, dem jeder Erfolg zu wünschen war, das aber durch den bedauerlichen Sieg des Arminius einen irreparablen Rückschlag erlitt.

In derselben Zeit hat der französische Staatschef François Mitterrand, ein Sozialist wie Schröder, in Burgund, in der Nähe des antiken Oppidum Bibracte, ein gigantisches Museum der keltischen Kultur errichten lassen, und es gab das hartnäckige Gerücht, er plante, sich in der Nähe, oberhalb jenes Platzes bestatten zu lassen, an dem Vercingetorix – der gallische Arminius – zum ersten Mal die keltischen Stämme zum Kampf gegen die Römer geeint hatte.

Der Satz „Unsere Vorfahren, die Gallier“, mit dem früher die Fibel aller französischen Schüler begann, auch derjenigen fremder Herkunft oder derjenigen, die in den Kolonialgebieten Schreiben und Lesen lernten, hat heute viel von seiner Plausibilität eingebüßt, wenngleich der Rekurs auf das keltische Erbe den Franzosen ganz selbstverständlich geblieben ist, auch unproblematisch, obwohl sie sich gleichzeitig als Wahrer der lateinischen Überlieferung betrachten.

Dagegen hat man den Deutschen eingeredet, daß sie mit den Germanen gar nichts zu tun haben, daß sie sich wahlweise als Konstruktion oder als Konglomerat betrachten sollten, eine bunte Mischung nur – wobei niemand die Größe der Anteile, die vermischt wurden, erörtert. Bestenfalls wird das Germanische spöttisch oder denunzierend behandelt, so wie die Zeit es jüngst getan hat, als sie den Kampf des Arminius, den deutschen „Urmythos“, auf die erste Seite brachte, kaum besser der Spiegel-Titel über diese „Geburtsstunde der Deutschen“.

Allerdings bietet jede Entfremdung auch Möglichkeiten. Denn das Ganz-Ferngerückte, das Wieder-Ungewohnte, kann auch seinen ursprünglichen Reiz zurückgewinnen. Das war etwa an Reaktionen auf die vierteilige Filmreihe zur germanischen Geschichte beobachtbar, die vor einiger Zeit von Arte und dann von der ARD ausgestrahlt wurde. Was man dem durchschnittlich Interessierten zeigte, übertraf alles bis dahin Gebotene an Aufwand und Geschick der Regie, und wer Gelegenheit hatte, etwa die Folge über Arminius mit jungen Leuten zu sehen, konnte erleben, wie aufmerksam und unbefangen jemand auf eine Überlieferung reagiert, die eben nicht nur vergessen, sondern auch von dem ganzen bierseligen und angestaubten Hermannspathos befreit ist und Arminius zuletzt als „liberator Germaniae“ und als tragischen Helden darstellt.

In dem Film wird am Rand auf die seltsame Tatsache hingewiesen, daß die Germanen die Geschichte ihres „Befreiers“ sehr schnell vergessen haben, und jene Mutmaßung erwähnt, der zufolge die Figur des Arminius – dessen germanischen Namen wir nicht kennen und dessen Gestalt uns nur aus römischen Quellen bekannt ist – von der Volksüberlieferung in der Gestalt Siegfrieds tradiert wurde. Dann wäre die Tötung des Drachens ein symbolisches Bild für den Sieg über die Römer gewesen und der Tod durch die Hand des eigenen Mannes ein Hinweis auf das tatsächliche Schicksal des Arminius. Eine Ansicht, die zuerst der Historiker Wilhelm Giesebrecht und später mit besonders wichtigen Argumenten der Volkskundler Otto Höfler vertrat.

Die Erinnerung im Mythos ist ein gutes Beispiel dafür, daß über lange Zeit vieles, sogar das Wichtige der Überlieferung vergessen werden kann, ohne doch ganz verlorenzugehen, wenn sich die Möglichkeit erhält, an den Ursprung anzuknüpfen. Eines der wenigen Widmungsexemplare von Borchardts „Deutschland“, das auf uns gekommen ist, hat der Autor mit seinem Namen und dem Satz versehen: „Nur der Geist macht lebendig.“

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