© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/09 02. Januar 2009

Veränderte Konstellationen
Rußland und der Westen: Die globale Wirtschaftskrise zwingt die Kontrahenten zur Zusammenarbeit / Hoffnung auf Obama und Medwedjew
Alexander Rahr

Nicht nur der Westen und Ostasien, auch Rußland ist von der Finanzkrise schwer getroffen worden. Die Industrieproduktion kam praktisch zum Erliegen, Geld für Investitionen fehlt. Es kommt vielerorts zu Massenentlassungen, der Mittelstand fürchtet um seine Existenz. Viele Rußland-Kritiker im Westen fühlen sich nun endlich bestätigt. Rußland hänge eben doch am Energietropf, habe die Modernisierung seiner Wirtschaft verpaßt und werde jetzt angesichts der weiter fallenden Energiemarktpreise auf seine wahre Größe in den neunziger Jahren zurückschrumpfen.

In der Tat steht die russische Führung vor einer Grundsatzentscheidung. Soll sie die im Stabilitätsfonds verbliebenen Gelder für die ambitionierte Agenda der Großmachtwerdung Rußlands bereitstellen oder ausschließlich die fragilen Sozialsysteme aufrechterhalten? Westliche Schadenfreude über das Stolpern eines in letzten Jahren merklich arroganter gewordenen Rußland hält sich in Grenzen. Die Weltwirtschaft durchläuft momentan drei schwere Parallelkrisen. Die globalen Nahrungsmittel-, Finanz- und Energiekrisen erfordern die Einbindung Rußlands ins internationale Krisenmanagement. Zu warten, bis Rußland demokratisch wird und das westliche Wertesystem annimmt, kann keine westliche Rußland-Strategie sein.

Neue pragmatische Interessenspartnerschaft

Die gegenwärtige internationale Krisenlage erfordert eine Besinnung auf die pragmatische Interessenspartnerschaft. Präsident Dmitri Medwedjew hat dem Westen einen breiten Dialog über die künftige euro-atlantische Anordnung angeboten. Die sich zuspitzende krisenhafte Weltwirtschaftslage bietet eine neue Basis für diesen Dialog.

Auch der künftige US-Präsident Barack Obama möchte offensichtlich keinen neuen Kalten Krieg mit Rußland. Die faktische Annexion Abchasiens und Südossetiens durch Rußland im Kaukasus-Konflikt letzten August – freilich ausgelöst durch eine Aggression Georgiens – ist zwar von der internationalen Gemeinschaft nicht vergessen worden, aber aufgrund der sich dramatisch verändernden Konstellationen in der Weltpolitik als Folge der Finanzkrise haben sich der Westen und Rußland zu einem Festhalten an der strategischen Partnerschaft mit Moskau entschlossen.

Schon beim ersten Aufeinandertreffen von Obama und Medwedjew – zwei jungen Politikern, die ihre Karrieren nicht mehr im Ost-West-Konflikt gemacht haben – könnte das Eis in den Beziehungen zwischen den USA und Rußland brechen. Die neue US-Regierung könnte Rußland – so verlauten erste Gerüchte – doch wieder eine strategische Zusammenarbeit bei der Ausarbeitung der Raketenabwehr vorschlagen. In Fragen der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen könnte es – wenn die neue Obama-Regierung direkte Gespräche mit dem Iran sucht – zu positiven Entwicklungen kommen. Die USA könnten Rußland, China und Indien verstärkt in die Friedenssicherung im Greater Middle East einbinden und somit einer Neuauflage der im Irak-Krieg zerbrochenen Koalition für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus Vorschub leisten.

Präventive Maßnahmen gegen möglichen Gastransit-Streit

Regionale Konflikte müssen auf jeden Fall vermieden werden. Die Wirtschafts- und Finanzsysteme vieler osteuropäischer Länder, die sich gerade aus der Moskauer Umklammerung befreit und Anschluß an den Westen gefunden haben, befinden sich im freien Fall. Der Westen, selbst durch die Finanzkrise in Bedrängnis geraten, kann nur begrenzte Hilfe leisten.

Theoretisch könnte Rußland versucht sein, die Notlage dieser Staaten für seine geopolitischen Ziele zu nutzen, was es aber nicht tun wird, da ihm die Kooperation mit den führenden Industrienationen bei der Gestaltung der internationalen Mechanismen der künftigen Weltwirtschaft wichtiger ist. So gesehen eint die globale Wirtschaftskrise alle früheren Kontrahenten.

Doch die ersten Vorboten neuer drohender Konflikte – Rohstoffkonflikte, Energiemangel, Versorgungssicherheit – sind sichtbar geworden. Die Ukraine, vermutlich schon kurz vor dem Bankrott stehend, ist wieder einmal außerstande, ihre Gasrechnung an Moskau zu begleichen. Der Energiekonzern Gasprom benötigt derzeit jeden Rubel und wird seinen Druck auf den ukrainischen Schuldner massiv erhöhen, der wiederum – wie schon 2006 – in seiner Existenznot die Transitgasleitung nach Westen anzapfen könnte. Die EU ist gefragt, präventive Maßnahmen zur Beilegung eines möglichen Gasstreits zu ergreifen.

 

Alexander Rahr ist Programmdirektor Rußland/Eurasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

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