© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/09 02. Januar 2009

Vexierbild der unbekannten Mutter
Für literarische Feinschmecker: Eine Erinnerung an den französischen Dichter Gérard de Nerval
Johanne Poppe

Eigentümliche Stille herrschte im deutschen Feuilleton, als sich im nun zu Ende gegangenen Jahr 2008 der Geburtstag eines französischen Schriftstellers, Kritikers und fabelhaften Dichters zum zweihundertsten Mal jährte, der wie kaum ein anderer die deutsche Literatur schätzte, übersetzte und in seinem Lande heimisch machte: Gérard de Nerval.

Als Kind des Militärarztes Etienne Labrunie in Paris am 22. Mai 1808 zur Welt gekommen, wurde er schon wenige Tage nach seiner Geburt in die Obhut einer Amme gegeben und später im Hause seines Großonkels in Mortefontaine bei Senlis in der Landschaft des Valois großgezogen.

Der Umstand, daß der kleine Gérard seine Mutter, die seinen Vater an dessen wechselnde Einsatzorte während der Feldzüge Napoleons begleitete, nie kennenlernte (schon zwei Jahre nach seiner Geburt starb sie in Schlesien an einer Virusgrippe), hat den späteren Dichter in besonderer Weise geprägt. Das Vexierbild seiner unbekannten Mutter hat er immer wieder in verschiedenen Frauen gesucht, deren Gestalten er in seiner Dichtung verewigte, eine erfüllte Liebesbeziehung blieb ihm jedoch versagt.

Um diese Frauen geht es in den Novellen, die er gegen Ende seines Lebens in dem Band „Les filles du feu“ (1853, dt. „Die Töchter der Flamme“) veröffentlichte. Besonders hervorzuheben ist die Novelle „Sylvie“, in der auch die frühkindliche Heimat des Valois wieder aufersteht und – ähnlich wie später Combray bei Marcel Proust (der Nerval sehr schätzte) – gleichsam zu einem mythischen Raum überhöht wird.

„Diese Übersetzung ist ein stilistisches Wunderwerk!“

Daß seine Mutter so fern in deutscher Erde begraben war, hat den jungen Gérard sehr beschäftigt, was dazu führte, daß er sich schon früh für Deutschland interessierte, das Land Goethes, Schillers und besonders der Romantiker, die auf den Dichter großen Einfluß ausübten. So hat er schon in seiner Jugend deutsche Gedichte übersetzt, später vor allem die von Heinrich Heine, mit dem er in Paris befreundet war.

Als er mit nur 18 Jahren Goethes „Faust I“ übersetzt, erregt er nicht nur in Frankreich großes Aufsehen. Goethe soll nach der Lektüre der Übersetzung zu Eckermann gesagt haben: „Diese Übersetzung ist ein wahres stilistisches Wunderwerk!“

Durch diesen frühen Ruhm erhält Nerval Zutritt zu den literarischen Zirkeln von Paris. Er wird Victor Hugo vorgestellt und ist mit vielen Romantikern befreundet, insbesondere mit Theophile Gautier, den er schon aus seiner Schulzeit kennt. 1830 veröffentlicht er „Poésies allemandes“, Übersetzungen deutscher Lyrik, 1832 folgt ein Band mit eigenen Gedichten, die von Ronsard inspirierten „Odelettes“. Zu dieser Zeit legt er sich auch das Pseudonym „de Nerval“ zu.

Gérard de Nerval ist ein begeisterter Theatergänger, er schreibt mehr als 350 Kritiken, verfaßt auch eigene Stücke und Libretti. Als die von ihm angebetete Schauspielerin Jenny Colon, die Inspiration zu seiner Aurélie in der Novelle „Sylvie“ und zu „Aurélia“ (der Titelfigur seiner letzten Novelle), einen ihrer Kollegen heiratet, unternimmt er eine Deutschland-Reise, die neben anderen Reisebeschreibungen in dem Buch „Loreley“ ihren literarischen Niederschlag findet.

Auf dieser Reise hat er Fakten über die revolutionären Burschenschaften in Deutschland recherchiert. Nach Paris zurückgekehrt, verarbeitet er diese zusammen mit seinem Freund Alexandre Dumas zu einem Drama, das den legitimen Anspruch der Deutschen auf ein freies und vereintes Vaterland thematisiert. Im Zentrum des Stücks steht der redliche, seinem Gewissen verpflichtete Leo Burckhart, der als ehemalige Symbolfigur der liberalen studentischen Jugend jetzt in der Rolle des Ministers vor der Schwierigkeit steht, seine Ideale zu verwirklichen.

Indes ist Gérard de Nerval alles andere als ein politischer Schriftsteller und auch sicherlich kein sehr bedeutender Dramatiker. Aber im Vergleich mit Victor Hugos Theaterstück „Ruy Blas“, das in Spanien um 1695 spielt und fast zeitgleich mit „Leo Burckhart“ 1835 uraufgeführt wurde, wird deutlich, daß Nervals Stück politisch nicht nur viel brisanter, sondern besonders auch sprachlich viel moderner erscheint.

In erster Linie jedoch liegt die besondere Bedeutung Nervals neben seinen Übersetzungsarbeiten (1840 übersetzte er auch „Faust II)“ auf dem Gebiet der Lyrik. Seine späten, dunklen hermetischen Sonette „Les Chimères“, die zusammen mit dem erwähnten Novellenband „Les filles du feu“ kurz vor seinem Tode erschienen (und 2008 von Manfred Krüger neu übersetzt und interpretiert wurden), hatten auf die moderne Lyrik einen immensen Einfluß. Baudelaire, Apollinaire und die Surrealisten sahen in ihm einen der Ihren.

Weitab von Sentimentalität oder Selbstgefälligkeit

Aber auch die unvergleichliche Anmut seiner Prosa kann in ihrem stilistischen Wert gar nicht hoch genug veranschlagt werden. In seinen kleinen autobiographischen Werken („Petits Châteaux de Bohème“, dt. „Kleine Schlösser der Bohème“; „Promenades et Souvenirs“, dt. „Spaziergänge und Erinnerungen“; „Nuits d’Octobre“, dt. „Oktobernächte“) erzählt er weitab von jeglicher Sentimentalität oder selbstgefälligen Rhetorik, immer den richtigen, den ganz eigenen unverwechselbaren liebenswürdigen Nervalschen Ton treffend, so daß man diese Lektüre jedem literarischen Feinschmecker nur empfehlen kann.

Es berührt eigenartig, daß viele seiner späten, künstlerisch hochrangigen Werke entstanden sind nach oder während seiner Aufenthalte in einer psychiatrischen Klinik. Das gilt zum Beispiel für „Aurélia“, die letzte phantastische, wenn auch eingermaßen schwer zugängliche Erzählung des erwähnten Novellenbands. Hier werden nicht nur die Grenzen zwischen Traum und Erinnerung durchlässig, sondern auch diejenigen zwischen Diesseits und Jenseits überschritten.

Schließlich durchbrach Nerval auch im Leben die letzte Grenze, indem er den Freitod wählte. Am Morgen des 26. Januar 1855 fand man ihn erhängt in der Rue de la Vieille Lanterne in Paris.

Foto: Gérard de Nerval (1808–1855): Liebenswürdiger Ton

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