© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/09 23. Januar 2009

Rütli-Schule in XXL
Bildungspolitik: In einem Brandbrief beklagen 68 Berliner Schulleiter katastrophale Bedingungen an ihren Bildungseinrichtungen
Ekkehard Schultz

An vielen Berliner Schulen herrschen katastrophale Verhältnisse: Nun haben 68 Direktoren von Schulen des Stadtbezirks Mitte in einem Brief an die Senatsregierung auf die dramatische Situation an ihren Einrichtungen aufmerksam gemacht. Sie könnten den vom Berliner Schulgesetz auferlegten Bildungsauftrag "nicht mehr guten Gewissens erfüllen", heißt es in dem an Bezirksbürgermeister Christian Hanke, den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit und Bildungssenator Jürgen Zöllner (alle SPD) adressierten Schreiben.

Inhaltlich wird in dem Brief vor allem auf die problematische Sozialstruktur des Bezirks Mitte mit einer hohen Kriminalitätsrate, vielen sozial benachteiligten Familien und Schülern aus Einwandererfamilien verwiesen. Insbesondere die im Zuge der letzten Bezirksreform nach Mitte eingegliederten ehemaligen Westberliner Stadtteile Tiergarten und Wedding wiesen die "höchste Zahl an Intensivtätern" auf, welche ganze Klassen und Schulen terrorisieren.

Der Ausländeranteil an den Einrichtungen liegt inzwischen bei durchschnittlichen 90 Prozent, der Anteil von Familien mit deutlich unterdurchschnittlichem Einkommen bei 65 Prozent. Nahezu alle Eltern, die es sich leisten könnten, meldeten daher ihre Kinder an Privatschulen oder in anderen Bezirken an. Damit sei eine "Ghettoisierung" des Bezirks unverkennbar.

Zudem betonen die Autoren des Briefs, daß viele Kinder kaum die deutsche Sprache beherrschten, kaum zuhörten und sich nicht angemessen bewegen könnten. Sie erledigten ihre Hausaufgaben nicht und schwänzten regelmäßig die Schule. Damit fehle es an den elementaren Voraussetzungen für ein erfolgreiches Lernen.

Für die Lehrer stellten die Eltern oft keinerlei Hilfe dar. Denn oft könnten sich diese ebensowenig verständlich machen wie ihre Kinder. Häufig seien sie noch in den tradierten, archaischen Riten des Familienclans befangen und begriffen nicht, welchen Wert eine gute Bildung habe. Hinzu komme, daß viele Eltern arbeitslos seien und damit auch in dieser Hinsicht für die Kinder kein Vorbild darstellten.

Das Schreiben erinnert stark an den Notruf des Lehrerkollegiums der Rütli-Hauptschule im Stadtbezirk Neukölln vor knapp drei Jahren. Damals hatte die dortige Rektorin wegen des hohen Anteils von jugendlichen Intensivtätern sogar an die Behörden appelliert, die Schule in ihrer bestehenden Form ganz zu schließen. Die Lehrer würden mit Gegenständen beworfen oder gar nicht erst wahrgenommen; einige gingen nur noch mit Handy in den Unterricht, um im Notfall schnell Hilfe rufen zu können.

Um die Situation nicht vollkommen eskalieren zu lassen, mußten vorübergehend Polizisten am Eingang der Schule mit Kontrollen dafür sorgen, daß keine Waffen in das Gebäude gelangen. Der Hilferuf der Rütli-Schule hatte zu einer Diskussion über die Bildungspolitik und die Integration von Ausländern geführt.

Längst ist freilich diese Situation in Berlin wie auch in anderen Großstädten  nicht mehr nur auf einige sogenannte "Problemkieze" beschränkt. An vielen Schulen besteht für fast jedes Kind ein erhöhter Betreuungsbedarf, der freilich aus den herkömmlichen Mitteln nicht finanzierbar ist. Einzelne Finanzspritzen durch Kommunen und Länder stellen daher im Regelfall lediglich einen Tropfen auf dem heißen Stein dar.

Mit direktem Bezug auf den jüngsten Notruf der Rektoren sprach sich der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) in einem Interview in der Berliner Morgenpost daher erneut dafür aus, sich stärker als bislang mit den eigentlichen Ursachen dieser Entwicklung auseinanderzusetzen.

Notwendig sei in erster Linie ein stärkerer Integrationsdruck für Kinder aus Einwandererfamilien. Zwar gebe es inzwischen einen Sprachtest für Kinder mit vier Jahren. Werden dort Mängel bemerkt, könnten diese mit einem Jahr Sprachunterricht ausgeglichen werden. Doch eine Verpflichtung, die Kinder zum Test oder zum Sprachunterricht zu bringen, gebe es nicht.

Da Integration aber "nicht als Naturgesetz von alleine" funktioniere, bedürfe es mehr Lenkung, auch mit Hilfe von Sanktionen für nicht regelkonformes Verhalten. So solle etwa kein Kindergeld mehr gezahlt werden, wenn ein Kind nicht in die Schule komme, forderte Buschkowsky.

Mitte der Woche war im Kanzleramt ein Gespräch mit der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Maria Böhmer, geplant. Die CDU-Politikerin bezeichnete die Berichte der Schulleiter als "alarmierend" und kündigte an, überprüfen zu wollen, ob Fördermaßnahmen für Schulen mit hohem Migrantenanteil überhaupt ankämen.

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