© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/09 30. Januar 2009

Neue Fragezeichen
Polen: Leichenfunde schon vor 1989 den Behörden bekannt?
Christian Rudolf

Von dem ungeheuer großen Massengrab im ehemals westpreußischen Marienburg (Malbork) ist wahrscheinlich schon viel früher etwas bekannt gewesen. Grundlage einer dahingehenden Hypothese sind Wasserrohre, die jetzt während der weiter andauernden Exhumierungsarbeiten auf dem Grundstück im Stadtzentrum entdeckt wurden. "Daß die Fernwärmeleitung aus den achtziger Jahren stammt, erkennt man an ihrer technischen Konstruktion", erklärte der Archäologe Zbigniew Sawicki, welcher die Ausgrabungen beaufsichtigt (JF 4/09). "Heute kommen solche Betoneinfassungen nicht mehr zur Anwendung." Sawickis Einschätzung nach müßten die Arbeiter, die die Rohre vor mehr als 25 Jahren verlegt hatten, die Skelette bemerkt haben. An mindestens zwei Stellen führt die Leitung über menschliche Knochen.

Am vergangenen Samstag hatte das polnische Fernsehen TVP über die neue Entdeckung berichtet und spekuliert, die damaligen kommunistischen Machthaber könnten die Angelegenheit vertuscht haben, um Irritationen mit der Sowjetunion zu vermeiden. Laut TVP-Angaben hätten polnische Behörden nach der politischen Wende in den neunziger Jahren versucht, Aufschluß über zahlreiche unbekannte Gräber in Polen zu bekommen und sich dabei auch an russische Stellen gewandt. Die russische Militärstaatsanwaltschaft habe jedoch jegliche Angaben verweigert.

General Wojciech Jaruzelski, von 1981 bis 1989 Erster Sekretär des Zentralkomitees der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei und bis 1985 Vorsitzender des Ministerrates, wies den Vorhalt der Vertuschung umgehend zurück. Er erinnere sich nicht, daß der Fall eines Massengrabes in Marienburg bereits in den achtziger Jahren virulent und Gegenstand von Überlegungen der Regierung gewesen wäre. "Ich betone, ich erinnere mich nicht", sagte Jaruzelski am Sonntag der Polnischen Presseagentur.

"Nach allem, was ich weiß, ist es am wahrscheinlichsten, daß die Arbeiter damals ihre Entdeckung niemandem angezeigt haben", kommentierte Staatsanwalt Maciej Schulz vom Institut für Nationales Gedenken (IPN) in Danzig die neue Hypothese. Schulz ist Chef der Kommission für die Verfolgung von Verbrechen gegen das Polnische Volk am Danziger IPN. Am Donnerstag voriger Woche übernahm er von der Marienburger Bezirksstaatsanwaltschaft die Ermittlungen in Sachen Massengrab, die damit höher angesiedelt sind.

Unterdessen geht die Bergung der Skelette weiter. Über die Gesamtzahl der Opfer schwanken die Angaben: 1.850 sollen es mindestens schon sein, und die Exhumierungen werden sich noch bis weit in den Februar hinein erstrecken. Das im Oktober zufällig entdeckte Massengrab mit wahrscheinlich deutschen Opfern bewegt seit Wochen die Einwohner der Stadt.

Foto: Leichengrube in Marienburg: Entdeckung niemandem angezeigt?

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