© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/09 06. Februar 2009

Der mißachtete Bürger
Reformdebatte: Wer rettet den Staat aus dem Klammergriff der Parteiapparate?
Michael Paulwitz

Wieder mal ein "Superwahljahr" - doch mit der Erregung darüber bleibt die politische Klasse weitgehend unter sich. Nicht einmal spektakuläre Entscheidungsschlachten wie die Hessen-Neuwahl reißen die stetig sinkende Wahlbeteiligung wieder nach oben. Gemessen an der Zahl der Wahlberechtigten können die schwindsüchtigen "Volksparteien" nur noch Minderheiten hinter sich versammeln. Das Ansehen ihres Personals - bei den kleineren Kartellbrüdern sieht es nicht besser aus - rangiert in Umfragen regelmäßig am unteren Ende der Skala.

Politiker selbst scheint dieser Absturz des eigenen Rufs am allerwenigsten zu stören. Recht wohlig hat man sich eingemauert in einem selbstgenügsamen System, das im stillschweigenden Einvernehmen höchst effektiv Staat und Steuerzahler in den Dienst der Parteiapparate zu stellen versteht. Ein Symptom ist die Parteienfinanzierung selbst, die zu einem großen Teil auf staatlichen Zuwendungen beruht. Brechen die Mitgliedsbeiträge weg, fordert eine SPD-Schatzmeisterin schon mal die Erhöhung des staatlichen Anteils - und offenbart damit eine bezeichnende Verwechslung von Parteien- und Staatsinteresse, wie man sie sonst nur von Einparteiendiktaturen kennt. Ob im öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder bei der Besetzung von Richterämtern, ob durch Klientelfinanzierung oder über die Erfindung immer neuer Sozial-, Integrations-, Gender-, Antifa- oder sonstiger Betreuungsindustrien und Volkspädagogikveranstaltungen - wo es etwas zu verteilen gibt, sind die Parteien zur Stelle, wachen eifersüchtig über den Proporz und bauen so ihre Kontrolle über Staat und Gesellschaft aus.

Je mehr dabei vom "Bürger" gesprochen wird, desto geringer wird er geachtet. Man betrachtet ihn nicht als Souverän, sondern als rundum zu betreuendes Mündel, das man mit ein paar rechtzeitig vor der nächsten Wahl zugesteckten Bonbons schon bei Laune hält. Er soll eifrig den vorgespurten Diskurspfaden und inszenierten Hahnenkämpfen seiner parteipolitischen Betreuer folgen, soll brav schlucken, wenn man ihm heute dies und vier Wochen später das Gegenteil als Patentrezept zur Krisenbewältigung anpreist, er darf auch mal auf Demonstrationen mitmarschieren, die seine Obrigkeit inzwischen auch schon für ihn organisiert - mit Parteipolitikern immer vorneweg.

Mitsprache aus eigener Initiative, Einmischung gar in politische Prozesse jenseits von Wählen und Steuerzahlen dagegen ist unerwünscht, allen Bürgerbüros, Dialogveranstaltungen und Kummerbriefkästen zum Trotz. Volksabstimmungen und Bürgerentscheide werden über wichtige Fragen gar nicht abgehalten, wo sie nicht zu vermeiden sind, werden sie ignoriert oder auf Bedeutungsloses beschränkt.

Gründet oder wählt der aufsässige Bürger Parteien, die den bereits vorhandenen nicht recht sind, wird er beschimpft, geächtet, drangsaliert und unter Kuratel gestellt; die Aufseher und erzieher suchen die Parteien für ihn aus. Wenn's gar nicht anders geht, ändert man eben die Regeln, droht mit Parteiverboten oder verhängt verschärfte Nachhilfe per Medienkampagne. Zeigen sich hingegen gewählte Abgeordnete unangepaßt und uneinsichtig gegenüber der Parteiräson und stören die Kreise der Apparate, werden sie umgehend diszipliniert oder gleich kaltgestellt.

Der Fall der vier hessischen SPD-Abgeordneten, die sich auf die Gewissensbindung ihres Mandats beriefen, war ein Menetekel der Machtfülle, die Parteiapparate heute innehaben. Politische Entscheidungs- und Mitsprachemöglichkeiten haben sie auf sich konzentriert, Außenseiter, Unabhängige und Seiteneinsteiger haben kaum eine Chance. Aus Mitwirkenden der politischen Willensbildung, wie vom Grundgesetz vorgesehen, sind die Parteien zu tendenziellen Monopolisten geworden, wobei sich der Club derer, die es in den Bundestag geschafft haben, als geschlossene Gesellschaft vom Rest der Parteienlandschaft abzusetzen sucht. Die Verfügungsgewalt der Parteiapparate über Gelingen oder Scheitern politischer Karrieren fördert durch Negativauslese die Entstehung eines duckmäuserischen, lebensfremden Berufspolitikertums, das den Staat durch Mediatisierung seinen Bürgern entfremdet.

Der Siegeszug der Parteiapparate geht einher mit der Entmachtung des Bürgers und der Entwertung der staatlichen Institutionen. Die Talkshow ersetzt die Parlamentsdebatte, die mediale Simulation das Handeln. Selbst existentielle Fragen innen- oder außenpolitischer Krisenbewältigung werden parteitaktischen Erwägungen untergeordnet. Das Heer der Betreuungswilligen wächst an, der schwindende staatstragende Mittelstand, der unternehmerische wie der angestellte, resigniert angesichts der Entwertung seiner Stimme, kümmert sich vor allem um das eigene Überleben und nimmt das Regierungstreiben abwechselnd als störend oder entbehrlich wahr. Schließlich schwindet mit der Entscheidungsfähigkeit der Staat selbst - zusätzlich entmündigt durch einen europäischen Überbau, den auch Politiker der Einzelstaaten nur zu gern nutzen, um ihre nationalen Parlamente zu bloßen Akklamationsgremien zu degradieren.

Die Reformvorschläge sind Legion. Direkte Demokratie durch bindende und verpflichtende Volksabstimmungen auf allen politischen Ebenen kann den Bürger als Souverän wieder in den Mittelpunkt rücken. Unmittelbare Volkswahl könnte den Bundespräsidenten dem Parteien-Hickhack entziehen und als überparteiliche Institution stärken. Eine Wahlrechtsreform könnte entweder über Einführung des Mehrheitswahlrechts den nur noch direkt zu wählenden Abgeordneten gegenüber den Parteiapparaten aufwerten oder aber durch Aufhebung der Fünf-Prozent-Hürde den Wettbewerb freigeben.

Wie immer der Anstoß zur Reform aussehen mag - er kann nur von außen kommen und nicht aus den etablierten Parteimaschinerien. Ist die Zeit in Deutschland reif für eine Sammlungsbewegung der mißachteten Bürger?

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