© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/09 06. Februar 2009

Die Stunde der Richter
Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über Deutschlands Staatlichkeit
Wolfgang Philipp

Eine schicksalsschwere Verhandlung findet am 10. und 11. Februar 2009 vor dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts statt. Denn falls das Gericht die von 53 Mitgliedern des Deutschen Bundestages und Privatpersonen gestellten Anträge zurückweisen sollte, wäre es in Deutschland mit Eigenstaatlichkeit, Demokratie, Gewaltenteilung und Volkssouveränität vorbei.

Es geht um das Zustimmungsgesetz zu dem Vertrag von Lissabon, das heißt zu dem etwas abgewandelten früheren Europäischen Verfassungsvertrag. Der Vertrag von Lissabon erweitert, wie es in einer Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts heißt, unter anderem die Zuständigkeiten der EU, dehnt die Möglichkeiten aus, im Rat mit qualifizierter Mehrheit abzustimmen, und verleiht der EU eine eigene Rechtspersönlichkeit.

Einer der Beschwerdeführer, der Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler (CSU), und dessen Anwalt Karl Albrecht Schachtschneider kommen zur Sache: Die EU dringe in "Kernbereiche der Staatlichkeit" vor. Sie werde mit der Verleihung eigener Rechtspersönlichkeit in einen Staat verwandelt. Deutschland verliere seine souveräne Staatlichkeit. Verletzt werde auch das Prinzip der Gewaltenteilung. Schachtschneider erklärte dazu (JF 22/08): "Wenn der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt, ist Deutschland keine Demokratie mehr, kein Rechtsstaat mehr, kein Sozialstaat mehr, sondern Teil einer Region der globalen Rechtlosigkeit."

Von besonderer Bedeutung ist in diesem Kontext die Verleihung eigener Rechtspersönlichkeit an die EU. Artikel 23 und 24 des Grundgesetzes haben Bundestag und Bundesrat ermächtigt, Hoheitsrechte auf die EU zu übertragen. Rund 80 Prozent aller politischen Entscheidungen fallen schon in Brüssel. Sie binden auch den Bundestag.

Folglich müssen die Abgeordneten Gesetze nur deshalb verabschieden, weil die EU-Verwaltungsorgane über "Richtlinien" solches befehlen. Ein Zusammenhang mit der den Bundestag allein legitimierenden Volkssouveränität ist nicht mehr erkennbar.

Bisher hat das Bundesverfassungsgericht diese Entwicklung nicht gestoppt. Das könnte sich aber ändern. Es hat den Bundespräsidenten gebeten, das Zustimmungsgesetz nicht zu unterschreiben, bevor es selbst entschieden hat.

Ein erstes "Wetterleuchten" war im April 2005 zu erleben, als der Zweite Senat über den "europäischen Haftbefehl" verhandelte. In einer "Verhandlungsgliederung" finden sich Begriffe wie "schrittweise Entstaatlichung durch Übertragung von Kernkompetenzen", "Identität des deutschen Verfassungsstaates". Schon damals sah es so aus, als wollte der Senat der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU Grenzen setzen. Dazu kam es dann aber nicht, weil die Mängel des Gesetzes über den europäischen Haftbefehl darin bestanden, daß der Bundestag ihm verbliebene Spielräume nicht ausgenutzt hatte.

Ein weiteres Wetterleuchten war die Stellungnahme des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog in der Welt am Sonntag (14. Januar 2007). Er stellte sich die Frage, "ob man die Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch uneingeschränkt als parlamentarische Demokratie bezeichnen" könne, und erklärte, das die EU-Politik "in besorgniserregender Weise unter einem Demokratiedefizit und einer faktischen Aufhebung der Gewaltenteilung" leide.

Vor allem hat die Fokussierung des öffentlichen Interesses auf den Vertrag von Lissabon auch ihre Gefahren. Weithin ist nicht im Blick, daß die angeprangerten Punkte nicht nur mögliche Zukunft, sondern längst Gegenwart sind. Ein "Ermächtigungsgesetz" für die EU-Exekutive muß nicht erst durch den Lissabon-Vertrag geschaffen werden: Es existiert längst in Gestalt von Artikel 249 des EU-Vertrags. Danach sind die Einzelstaaten an Richtlinien gebunden, die der Europäische Rat und/oder die Kommission, also reine Exekutivorgane erlassen. Es gibt schon heute eine von Brüssel ausgehende Richtliniendiktatur, die an Strukturen des Zentralkomitees der UdSSR erinnert. Artikel 249 des EU-Vertrags ist der Sache nach ein Abklatsch des 1933 verabschiedeten Ermächtigungsgesetzes. Dessen Substanz bestand ebenfalls darin, die Gesetzgebungsrechte vom Reichstag auf die Exekutive zu übertragen.

In welch verheerende Rolle sich der Deutsche Bundestag selbst gebracht hat, wurde in der Verhandlung über den europäischen Haftbefehl deutlich. Der CDU-Abgeordnete Volker Kauder brachte es auf den Punkt: "Der Deutsche Bundestag kann dem, was Brüssel veranstaltet hat, nur murrend zustimmen, ändern können wir nichts." Dem Zweiten Senat ins Gesicht sagte Kauder, bei der Abstimmung über das Gesetz über den europäischen Haftbefehl habe er nur als "Notar" gehandelt; eine eigene Entscheidungsbefugnis habe der Bundestag nicht mehr gehabt. Der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele formulierte, er habe "in normativer Unfreiheit" entschieden.

Es ist zu hoffen, daß die Verfassungsrichter diesen Offenbarungseid nicht vergessen haben. Es bleibt die Hoffnung, das Bundesverfassungsgericht werde Grundsätze aufstellen, an denen auch das Rechtsstaat und Demokratie zerstörende schon geltende "Recht" nochmals gemessen werden kann.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen