© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/09 27. Februar 2009

Die Bestrafung mit einer Hungersnot
Bis in das Frühjahr 1919 setzen die Alliierten ihre Lebensmittelblockade gegen Deutschland fort / Etwa eine Million Todesopfer
Dag Krienen

Im „Lexikon der Völkermorde“ (1999) von Gunnar Heinsohn findet sich der Eintrag „Deutsche Opfer / Hungerblockade 1917/1918“. Demnach starben etwa eine Million Zivilisten in Deutschland und Österreich an Unterernährung, „weil die Lebensmittelblockade der Alliierten ungemein effektiv funktionierte“. Festgehalten wird dort auch, daß diese Blockade erst Ende März 1919 gelockert wurde.

Das massenhafte Hungern und Verhungern in Deutschland in Zusammenhang mit der alliierten Blockade findet in den einschlägigen historischen Darstellungen zum Ersten Weltkrieg durchaus Erwähnung. Hinweise darauf, daß diese Blockade, die sich fast von Anfang an auch auf Lebens- und Futtermittel erstreckte, nach dem Waffenstillstand im November 1918 noch monatelang fortgesetzt wurde und das große Sterben an der Heimatfront das Sterben an den Kriegsfronten weit überdauerte, sind hingegen sehr viel seltener zu finden.

Im Ersten Weltkrieg und in den Jahren danach sah dies ganz anders aus. Die von praktisch jedem Deutschen durchlittenen Folgen der „Hungerblockade“ von 1914 bis 1919 waren Thema unzähliger Abhandlungen und Diskussionen. Wenn ein Ereignis in den Augen der Deutschen damals als „Zivilisationsbruch“ empfunden wurde, dann die durch die alliierte Blockadepraxis mitbewirkte massive Unterernährung in der zweiten Kriegshälfte sowie der Nachkriegszeit, die direkt oder indirekt unzählige Tote gerade unter den schwächeren Zivilisten, insbesondere Kinder und Frauen, verursachte und bei vielen bleibende Langzeitschäden (Tuberkulose, Rachitis etc.) hinterließ. Nicht wenige Deutsche glaubten – auch aufgrund von Äußerungen alliierter Politiker über „zwanzig Millionen Deutsche zuviel“ –, daß sie das Ziel eines versuchten Völkermordes gewesen waren.

Den Westmächten direkte genozidale Absichten zu unterstellen, führt indes zu weit. Die Hungerblockade war vielmehr Teil eines größeren strategischen Kriegsführungskonzepts vor allem der Briten, das auf Niederwerfung, nicht auf Ausrottung abzielte. Eine umfassende Seeblockade sollte die außenhandelsabhängige deutsche Wirtschaft so weit als möglich schädigen und damit die Fähigkeit des Deutschen Reiches zur Kriegführung untergraben. Das war insofern nichts Neues, als Seemächte zu allen Zeiten dazu geneigt haben, ihre Gegner durch Blockierung der Seewege wirtschaftlich abzuwürgen. Pikanterweise hatten allerdings gerade die Briten in den Jahren vor 1914 die Kodifizierung völkerrechtlicher Regeln unterstützt, die im Seekrieg die Rechte der Kriegführenden einschränkten und auch den Transport von Lebensmitteln auf neutralen Schiffen in neutrale Häfen fast uneingeschränkt erlaubten. Dieses völkerrechtliche und praktische Schlupfloch suchte Deutschland nach Kriegsausbruch 1914 für die Aufrechterhaltung seiner überlebenswichtigen Außenwirtschaftsbeziehungen zu nutzen.

Die Briten und ihre Verbündeten bemühten sich konsequenterweise, es zu stopfen und den Zwischenhandel der neutralen Mächte mit Deutschland zu unterbinden. Sie nahmen dabei in Kauf, daß ihre Blockademaßnahmen in erheblichem Umfang gegen das Kriegsvölkerrecht verstießen – nicht nur, aber auch weil sie rasch auf Lebens- und Futtermittel ausgedehnt wurden. Da sich Deutschlands Streitkräfte an den Fronten lange Zeit als unbezwingbar erwiesen, verlegten die Briten ihre Anstrengungen immer mehr darauf, durch Perfektionierung der Blockade die deutsche „Heimatfront“ zu zermürben. Dabei kannten sie zunehmend weniger Skrupel, um so mehr erkennbar wurde, daß der Hunger in Deutschland dazu ein geeignetes Mittel war. Nachdem die Blockade – die auch die neutralen Staaten in Europa erheblich in Mitleidenschaft zog – ab 1916 wesentlich effektiver gestaltet und nach dem Kriegseintritt der USA, im April 1917 nahezu wasserdicht gemacht werden konnte, erwies sich der Hunger schließlich als das wichtigste Mittel, um den Zusammenbruch des deutschen Widerstandswillens herbeizuführen.

Nach dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 begründeten die Alliierten die Fortsetzung der Blockade damit, daß es sich ja nur um einen Waffenstillstand handele, währenddessen dem Feind keine Gelegenheit gegeben werden dürfe, seine Kampffähigkeit zu regenerieren. Praktisch hielten sie an der Blockade auch deshalb fest, um den Deutschen später alle Friedensbedingungen aufzwingen zu können, die ihnen beliebten. Entsprechend bestimmte der Waffenstillstandsvertrag von Compiègne in Artikel 26, daß die Blockade bis zum Abschluß eines Friedensvertrags in Kraft bleiben sollte.

Immerhin hatten sich die Alliierten nach mehrfachen Interventionen des deutschen Verhandlungsführers Matthias Erzberger dazu bewegen lassen, den Artikel 26 dahingehend zu ergänzen, daß sie „in Aussicht nehmen, während der Dauer des Waffenstillstandes Deutschland in dem als notwendig erkannten Umfang mit Lebensmittel zu versorgen.“ Dieses vage Versprechen blieb indes zunächst folgenlos. Deutschlands hoffnungslose Versorgungslage verschärfte sich nach dem Waffenstillstand sogar, weil die Blockade nun faktisch auch auf die Ostsee ausgeweitet wurde und die britischen Flottenkommandanten zudem noch den dortigen deutschen Fischfang unterbanden.

Zwar drängten die Amerikaner, insbesondere der mit der Koordinierung der amerikanischen Hilfsmaßnahmen beauftragte spätere US-Präsident Herbert Hoover, schon im Dezember 1918 darauf, den Deutschen die Möglichkeit zur Einfuhr von Lebensmitteln zu geben – zunächst aber ohne Erfolg. Die britischen Verantwortlichen änderten allerdings aufgrund der Berichte ihrer Truppen aus den besetzten Teilen Deutschlands allmählich ihre zunächst harte Haltung. Ab Mitte Januar 1919 fanden sie sich dazu bereit, den Deutschen zu erlauben, zumindest bestimmte Kontingente an Lebensmitteln im Ausland zu kaufen. Allerdings müßten sie zuvor ihre Handelsflotte an die Alliierten ausliefern. Die deutsche Seite willigte ein und wollte die notwendigen Importe mit ihren arg geschrumpften Goldreserven bezahlen. Diese waren allerdings bereits von französischer Seite fest als Teil der zukünftigen deutschen Reparationsleistungen eingeplant worden. Die französischen Verhandlungsführer versperrten nun zwei volle Monate lang durch ihre Weigerung, Deutschland die Bezahlung in Gold zu gestatten, jeden Fortschritt in der Sache.

Erst im März gaben sie dem wachsenden Druck der übrigen Alliierten nach. Mitte des Monats wurde in Brüssel in Ergänzungsverhandlungen zum Waffenstillstand ein Abkommen geschlossen, das den Deutschen nach der Auslieferung ihrer Handelsflotte den vorab zu bezahlenden Import von Lebensmitteln zugestand. Die Hungerblockade wurde durch dieses Abkommen jedoch noch nicht generell aufgehoben, diese Sonderregelung erlaubte nur die Einfuhr von Lebensmitteln in zwar erheblichen, aber mengenmäßig prinzipiell beschränkten monatlichen Kontingenten. Praktisch führte dies zu einer wesentlichen Erleichterung der deutschen Versorgungslage, nachdem am 28. März 1919, volle viereinhalb Monate nach Kriegsende, das erste Schiff mit Lebensmitteln in einen deutschen Hafen einlaufen durfte. Die völlige Einfuhrfreiheit für Lebensmittel wurde indes erst erreicht, als die gesamte Blockade am 12. Juli 1919, am Tag nach der Ratifizierung des Versailler Friedens durch den Reichstag, von den Alliierten aufgehoben wurde.

Wie viele zusätzliche Opfer die militärisch völlig unnötige Verlängerung der Blockade nach dem Waffenstillstand insgesamt gefordert hat, ist nicht mehr zu ermitteln. Für das Deutsche Reich (ohne Österreich) wird im allgemeinen von gut 750.000 Toten bis Ende 1918 – also ohne die Opfer in der Waffenstillstandszeit – ausgegangen. Diese Opferzahlen beruhen auf statistischen Berechnungen der zivilen Sterblichkeit im Krieg im Vergleich zur zivilen Sterblichkeit in den vorangegangenen Friedensjahren. In neueren deutschen Untersuchungen wird deshalb gern der Effekt der alliierten Blockade heruntergespielt und der Hunger sowie die erhöhte Sterblichkeit vor allem als Folge von deutschen Maßnahmen und Unterlassungen (Abzug von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft durch Einzug zum Militär, bäuerlicher Egoismus, mangelhafte Organisation der Lebensmittelverteilung und  -rationierung) interpretiert.

Sicher spielten alle diese Faktoren eine Rolle, sicher gab es auch im von Lebensmittelknappheit nur wenig betroffenen Großbritannien eine gewisse kriegsbedingte Erhöhung der Zivilsterblichkeit, die allerdings weit unter der deutschen blieb. Eine saubere Unterscheidung, wer von den deutschen zivilen Toten des Weltkriegs und der Nachkriegsmonate nun tatsächlich eindeutig und ausschließlich der Hungerblockade zum Opfer fiel, ist faktisch unmöglich. Daß aber ihre Zahl in einem Land, das zumindest über die Neutralen Möglichkeiten zum Import von Lebens- und Futtermittel besessen hätte, wesentlich geringer gewesen wäre, ist unbestreitbar – ebenso, daß die Verlängerung der Leidenszeit der deutschen Zivilbevölkerung bis weit in das Jahr 1919 hinein vollends völlig unnötig und sinnlos war.

Die unter deutschen Historikern mittlerweile verbreitete Neigung, die häßlichen Seiten westlicher Kriegführung möglichst zu relativieren, schlägt sich auch darin nieder, daß die Aufrechterhaltung der Hungerblockade nach Ende der Kämpfe bei ihnen kaum Interesse findet. Umfangreiche Materialsammlungen und Studien zu diesem Thema wie „The Politics of Hunger“ von C. Paul Vincent sind meist amerikanischen Ursprungs und nur in wenigen deutschen Bibliotheken zu finden. Durch ihre Abneigung, sich mit diesem Thema zu befassen, verbaut sich die deutsche Forschung aber die Chance, die langfristigen Folgen der Hungerblockade ins Auge zu nehmen. Man braucht gar nicht so weit zu gehen wie Vincent, der einen Zusammenhang zwischen der Generation der kritisch unterernährten Kinder von 1915 bis 1919 und den späteren loyalen SS-Angehörigen sieht. Ob es direkte tiefenpsychologische Folgen der Unterernährung im Sinne einer Prädisposition zum Nationalsozialismus gegeben hat, muß Spekulation bleiben.

Daß aber die massenhafte Erfahrung von Hunger und Verhungern, die gerade die Generation der zwischen 1910 und 1918 Geborenen machen mußte, nicht ohne gravierende Folgen bleiben konnte, als diese in den dreißiger Jahren ins Erwachsenenalter eintrat, ist evident. Im eingangs zitierten Eintrag im Lexikon der Völkermorde wird darauf verwiesen, daß Hitler später seinen Krieg um „Lebensraum“ auch mit dem Verweis auf die alliierte Hungerblockade rechtfertigte. 

Foto: Warteschlangen vor einer Brotausgabe, Deutsches Reich um 1918: Unter deutschen Historikern ist die Neigung verbreitet, die häßlichen Seiten westlicher Kriegführung möglichst zu relativieren

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