© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/09 06. März 2009

Viele neue Machtzentren
Irak: Der US-Truppenabzug dauert länger als von Obama versprochen / Neuer Fokus Afghanistan und Pakistan
Elliot Neaman

Spätestens Mitte 2006 hatten fast alle Beobachter begriffen, daß ein wie auch immer gearteter Sieg im Irak unwahrscheinlich schien, solange die US-Armee an ihrer bisherigen Kampfstrategie festhielt. Laut Militärangaben detonierten jede Woche etwa eintausend Straßenbomben – das waren Tag und Nacht ganze sechs Bomben pro Stunde! Wie Thomas Ricks, einer der bestinformierten US-Kriegsberichterstatter, in seinem neuen Buch „The Gamble“ erläutert, führte diese untragbare Situation schließlich zu einer Kursänderung. Die in den Medien lang und breit diskutierte Truppenaufstockung war der uninteressanteste Aspekt der als surge (plötzlicher Ansturm) bezeichneten neuen Taktik. Das eigentlich Innovative daran war vielmehr die Art und Weise, wie die Truppen von nun an eingesetzt wurden.

Ricks zufolge wußten die Befehlshaber Anfang 2006 nicht mehr ein noch aus. Der damalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld weigerte sich, irgendwelche Fehler zuzugeben, und hochrangige Generale wie der Oberkommandeur der US-Streitkräfte Peter Pace oder der Oberste Befehlshaber im Irak George Casey waren nicht gewillt, mehr Soldaten in den Irak abzukommandieren oder von dem Ziel abzurücken, die irakischen Streitkräfte aufzubauen, damit sich die USA allmählich aus dem Irak zurückziehen konnten. Heute weiß man, daß hinter den Kulissen eine Gruppe von Offizieren gegen die Sinnlosigkeit dieser Strategie zu rebellieren begann. Denn statt sich zu beruhigen, wurde die Lage im Irak immer explosiver, und die einheimischen Streitkräfte waren entweder nicht imstande, der sektiererischen Gewalt Einhalt zu gebieten, oder selber darin involviert. Al-Qaida gewann ständig an Einfluß und an Mitgliederstärke. Der Widerstand aus den Reihen der Offiziere sollte sich schließlich zur offenen Revolte mehrerer Generäle steigern, die Rumsfeld in der Folge der Kongreßwahlen von 2006 zu Fall brachten.

Die neue US-Taktik brachte einige Teilerfolge im Irak

Als unerwarteter Retter in der Not erwies sich ein General im Ruhestand, der ehemalige Stabschef Jack Keane. Mit wachsendem Unbehagen hatte er vom heimischen Fernsehsessel aus verfolgt, wie das Pentagon in seinen öffentlichen Verlautbarungen eine vollkommene Realitätsverweigerung betrieb. Zusammen mit einigen zivilen Militärfachleuten vom konservativen American Enterprise Institute heckte Keane seinerseits einen Plan aus, um den Aufstand im Irak niederzuschlagen. Wie eine derartige erfolgreiche Strategie auszusehen hatte, ließ sich aus historischen Beispielen ableiten: dem Kampf der Briten in Malaya, dem der Franzosen in Algerien, dem Korea- und dem Vietnamkrieg sowie viel früheren geschichtlichen Ereignissen bis hin zum Römischen Reich.

Die Gruppe kam zu dem Ergebnis, daß der größte Fehler der Amerikaner darin bestand, keinen ausreichenden Schutz für die Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Solange Soldaten mit brutaler Gewalt gegen die Übeltäter vorgehen und sich dabei die einfachen Bürger zum Feind machen, können die Aufständischen sich darauf verlassen, aus den betroffenen Gebieten mit wichtigen Informationen und taktischer Unterstützung versorgt zu werden. Bemühen sie sich hingegen darum, unter den Anwohnern Bekanntschaften zu schließen, ihnen Arbeitsplätze zu verschaffen, lebensnotwendige Dienste und Schutz zu bieten, dann kann die Stimmung sehr schnell zugunsten der Besatzer umkippen. Langer Rede kurzer Sinn: Die neue Taktik wurde zunächst in Ortschaften wie Ramadi und Tal Afar außerhalb Bagdads ausprobiert und dann in der Hauptstadt selber. Bei der amerikanischen Surge-Strategie ging es weniger um mehr Soldaten als um eine Änderung der Psychologie im Kriegsgebiet.

Als Keane im Dezember 2006 bei George W. Bush und seinem Vize Dick Cheney mit seinem Plan vorstellig wurde, hatten die Zustimmungsraten des Präsidenten gerade ein neues Rekordtief erreicht – 62 Prozent der Amerikaner sprachen ihm die Regierungskompetenz ab. Bush hatte nichts mehr zu verlieren und war zu allem bereit. Keane hatte sich Verstärkung in Gestalt des auf den Vietnamkrieg spezialisierten Militärhistorikers Eliot Cohen mitgebracht. Cohen sagte Bush auf den Kopf zu, seine derzeitigen Generäle hätten versagt und sich nicht zu kreativem Denken fähig erwiesen. Allgemein wird davon ausgegangen, die USA seien in Vietnam an der Einmischung des seinerzeitigen Präsidenten Lyndon B. Johnson in militärische Detailfragen gescheitert. In Wirklichkeit, so Cohen, habe Johnson den Krieg verloren, weil er sich weigerte, den Generälen eine ernsthafte Strategiedebatte aufzuzwingen. In derart verfahrenen Kriegssituationen komme der Regierung die Verantwortung zu, Streitpunkte zwischen den militärischen Befehlshabern auszumachen, „an die Oberfläche zu zwingen und sie dann auszuloten“. Bush fragte die Gruppe um Ricks, auf wessen Rat er hören solle – Cohen brachte sogleich David Petraeus ins Spiel, und Keane stimmte zu. Immerhin hatte er Petraeus, der in Princeton über „The American Military and the Lessons of Vietnam“ promoviert hatte, höchstpersönlich ausgebildet.

Im Folgejahr setzte Petraeus die neue Strategie um, indem er US-Truppen ins Feld hinausschickte. Für die Soldaten erhöhte sich das Risiko dadurch enorm – nicht umsonst spricht Ricks im Titel seines Buches von einem „Glücksspiel“ –, und zunächst nahmen die Übergriffe gegen sie zu. Doch die Bevölkerung merkte schnell, daß der Strategiewandel ernst gemeint war. Die Amerikaner erkannten, daß al-Qaidas Erfolge darauf beruhten, daß die Heiligen Krieger arbeitslose junge Männer dafür bezahlten, ihre Arbeit zu verrichten. Warum sollten sie selber es nicht genauso machen? Den Aufständischen mißfiel der Einfluß der ausländischen Araber sowieso, und bald darauf halfen die früheren Feinde, die Sunniten, der US-Armee dabei, al-Qaida aus dem Irak zu vertreiben. Das Ergebnis war ein dramatischer Rückgang der Gewalt im Irak. Doch während die Strategie sich als militärisch erfolgreich erwies, sind auf der politischen Ebene noch allzu viele Fragen offen.

Die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad ist äußerst unglücklich über das Abkommen, das die Amerikaner im Westen des Landes mit den Sunniten getroffen haben. Die Frage, wem welche Anteile aus den Erträgen der Ölquellen zustehen, ist ebenfalls ungelöst. Die von den USA begünstigte Entstehung vieler neuer Machtzentren im Irak könnte jederzeit einen erneuten Bürgerkrieg auslösen und zum Sturz der Zentralregierung führen. Das Oberhaupt der schiitischen Miliz, Muktada al-Sadr, ist aus den Konflikten gestärkt hervorgegangen und sitzt nun in der Regierung. Schließlich hat der Einfluß des Iran bedenklich zugenommen.

Pakistanisches Atomarsenal in die Hände der Taliban?

Barack Obama hat vorige Woche angekündigt, bis August 2010 die US-Kampftruppen abzuziehen. Nur ein Übergangskontingent von 35.000 bis 50.000 Soldaten solle noch bis Ende 2011 im Irak bleiben. Doch in Wirklichkeit sind alle Truppenteile an den Kämpfen beteiligt. Alle im Irak stationierten Soldaten tragen Waffen, denn ein Versorgungszug ist in noch größerer Gefahr angegriffen zu werden als eine Infanterieeinheit. Ricks geht davon aus, daß noch mindestens bis 2014 US-Truppen im Irak stehen werden.

Ende Oktober 2008 wurde Petraeus zum zentralen Militärkommando in Florida befördert, wo er die Einsätze in zwanzig Ländern überall auf der Erde koordiniert. Er steht nun vor der Herausforderung, die Irak-Lehren auf dem sehr viel härteren Gelände in Afghanistan anzuwenden. Die Spielregeln sind dort dieselben: Die afghanische Bevölkerung muß vor den Taliban geschützt werden. Allerdings macht die schwache und korrupte Zentralregierung von Präsident Hamid Karzai den Amerikanern die Arbeit sehr viel schwerer. Die eigentliche Herrschaft liegt bei den Warlords, die die Bevölkerung terrorisieren. Ein noch größeres Problem besteht darin, daß al-Qaida ihre Basis im benachbarten nordwestlichen Pakistan hat. Die pakistanische Regierung hat die Kontrolle über die dortigen Stammesgebiete verloren, und auch der Nato gelingt es nicht, hier Ordnung herzustellen. Die sehr reale Gefahr eines Taliban-Putsches in einem Staat mit 170 Millionen Einwohnern, hundert Nuklearwaffen und 650.000 Soldaten ließe den Irak wie ein Kinderspiel aussehen.

Die historischen Lehren aus dem Irak-Krieg werden von der zukünftigen Entwicklung abhängen, nicht von den Fehlern, die uns in das derzeitige Dilemma geführt haben. Ryan Crocker, der US-Botschafter im Irak meint: „Die Ereignisse, um derentwegen man sich an den Irak erinnern wird, haben noch nicht stattgefunden.“

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco.

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