© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/09 06. März 2009

Pankraz,
der Ratgeber und die Zeit der Abrechnung

Nächste Woche auf der Leipziger Buchmesse wird auch ein nagelneues Buch von Pankraz gezeigt: „Gesunder Menschenverstand. Über Glücklichsein, Spaßhaben und Standhalten“, erschienen in der Edition Antaios. Das Buch kommt im Stil der heute so beliebten Ratgeber für diverse Lebenslagen daher, die dem Leser helfen sollen, den Alltag zu bestehen, ihn angenehm zu gestalten und, wo möglich, noch ein wenig über sich hinauszutreiben.

Der Untertitel verrät es. Wie kann ich glücklich sein?, so wird gefragt oder, etwas bescheidener: Wie kann ich dauerhaft Spaß haben? Wie komme ich einigermaßen ungeschoren über die Runden? Auch: Wie kann ich anständig bleiben? Aber die Pointe des Buches liegt woanders. Es ist kein aktueller Ratgeber, sondern ein von vorn bis hinten historisches Buch, nämlich die Fortschreibung jener ersten Vorlesung, die Pankraz unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus an der Universität Jena gehalten hat.

Seine Zuhörer waren keine auf Optimierung ihrer Lebensverhältnisse bedachten westdeutschen Alt-Achtundsechziger, sondern junge Oststudenten, denen soeben ihr gewohnter Lebensrahmen vollständig abhanden gekommen war und die nun, tief verunsichert, nach neuer und gründlicher Orientierung Ausschau hielten. Freilich, es waren Studenten, eingeschriebene Studenten der Philosophie, sie suchten weniger Orientierung für sich selbst als vielmehr bedachtsame Fingerzeige zur „objektiven“ Auslegung des Ganzen, keine simplen Ratschläge, eher wohl Theorie, Weltanschauung, Deutungsmuster.

Aus einer Welt, der kommunistisch-marxistischen, waren sie aufgetaucht, welche durch und durch mit „Theorie“ durchwirkt war, welche auch noch die banalsten Verrichtungen mit dem strammen Netz ideologischer Vorschriften überzogen hatte – und die damit spektakulär gescheitert war. So mißtrauten sie nun spontan jeder Aussage von auch nur mittlerer Reichweite; andererseits waren sie derart an ideologische Beeinflussung gewöhnt, daß sie, um es so zu sagen, auch noch in der schlichtesten Unterweisung den Spruch des Weltgeistes zu vernehmen glaubten.

Aus der Zuhörerspannung zwischen spontanem Mißtrauen gegenüber Theorien und einverseeltem Respekt vor ihnen war die Vorlesung entstanden. Sie versuchte, spontane Verhaltensweisen selber mit einer theoretischen Aura auszustatten, oder umgekehrt die tiefe Verwurzelung gewisser menschlicher Grundüberzeugungen (Theorie) in spontanem Handeln und Reagieren (Praxis) deutlich zu machen.

Ihr Schlüsselwort lautete „gesunder Menschenverstand“, englisch common sense, französisch bon sens. Der gesunde Menschenverstand, so versuchte Pankraz seinen Zuhörern zu erklären, ist kein Theoriegebäude, er ist aber auch keine bloße Ansammlung von Ratschlägen und Allerweltsweisheiten, er kann als geordnetes Weisheits-system sichtbar und lehrbar gemacht werden, und wer ihn ernst nimmt, der kann ihn auch getrost schwarz auf weiß nach Hause tragen, er erwirbt etwas fürs Leben, speziell für schwierige Wendezeiten.

Viele damals aktuelle und heißdiskutierte Fragestellungen sind in das Buch eingeflossen, strukturieren es sogar. Manche von ihnen mögen inzwischen in ihrer Kontur etwas verblaßt sein, andere treten dafür umso schärfer hervor. Der gesunde Menschenverstand, so kommt heraus, bewährt sich gerade in historischen und existentiellen Krisensituationen, über die Zeiten hinweg, und er verschafft denen, die auf ihn vertrauen, Halt und Genugtuung.

Es gibt eine Geschichte des gesunden Menschenverstandes, und das Buch zeichnet sie skizzenhaft nach, von den frühen Spruchweisheiten der Völker über die skeptischen und sophistischen Denkschulen der Antike bis hin zur deklarierten „Philosophie des gesunden Menschenverstandes“ in der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts und ihrer Verfeinerung und Vertiefung, aber nur scheinbar vollen Überwindung durch die klassische deutsche Philosophie um 1800.

Breiten Raum nehmen die Lehren jener deklarierten Common-sense-Theoretiker ein, die um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hervorzutreten begannen und eine große, fruchtbare Rolle bei der Kritik des damals in Ost wie in West verbreiteten totalitären Denkstils und der damit verbundenen tyrannischen Herrschaftsformen spielten. Die Rede ist von Karl Raimund Popper und Hans Jonas, Hermann Lübbe, Odo Marquard und einigen anderen, deren Wirken gar nicht genug gepriesen werden kann.

Der gesunde Menschenverstand richtet sein Interesse nicht primär auf Politik und Wirtschaftstheorie. Er ist, sowohl unter liberalen wie unter tyrannischen Bedingungen, vorab eine Orientierungshilfe in gut überschaubaren, „kleinen“, „privaten“ Verhältnissen, und das spiegelt sich in dem Buch ab. Seine ersten Themen sind die Beziehungen zwischen den Generationen und Geschlechtern, zwischen Gesundheit und Krankheit, Liebe, Geburt und Tod. Doch es gibt auch Kapitel über ideologische Besserwisserei und ungeniertes Herrschaftsinteresse und wie diese sich immer wieder in an sich leicht, graziös und gleichsam spontan regelbare Zustände einmischen und einem das Leben vergällen.

Pankraz spart nicht, wie sich seine Leser denken können, an Polemik und scharfen, verächtlichen Tönen. Er mischt sich ein und ruft dort, wo es ihm nötig erscheint, zum Widerstehen und zum Standhalten auf. Auch in diesem Belang erweist sich das Buch als ein genuin historisches – und gleichzeitig hochaktuelles Dokument. Der Geist der Wende- und unmittelbaren Nachwendezeit ist – so zumindest die Hoffnung von Pankraz – höchst wahrnehmbar, und diese Zeit war ja eine Zeit großer Erwartungen und allerbester Vorsätze, auch eine Zeit der Abrechnungen und Verurteilungen. Es war eine Zeit der Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Wer sich nach Gerechtigkeit sehnt, der wird in dem neuen Buch von Pankraz gut bedient.

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