© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/09 06. März 2009

Zersplitterte, geborstene Welt
In der Wirtschaftskrise geht es nicht mehr um subjektives Versagen, sondern um Systemfragen
Thorsten Hinz

Nord und West und Süd zersplittern, / Throne bersten, Reiche zittern.“ Die Naturgewalt, die sich für Goethe vor knapp 200 Jahren in Napoleon personifizierte, heißt heute Wirtschafts- und Finanzkrise. Um in Deutschland zu bleiben: Mit jeder Nachrichtensendung verstärken sich die Schwindelgefühle, kommt einem die meistens häßliche, aber wenigstens vertraute Umwelt ein Stück mehr abhanden.

Die Traditionsfirmen Märklin und Schiesser sind pleite, Opel steht ohne Milliardenhilfe vor der Insolvenz, die Dresdner Bank ist abgehakt, die Postbank schreibt rote Zahlen, Daimler Benz macht Verluste. Es werfen sich Milliardäre auf die Schienen oder brechen, um Staatsknete zu erpressen, öffentlich in Tränen aus. Kurzarbeit wird als Instrument gepriesen, um Massenentlassungen zwar nicht zu verhindern, aber wenigstens zu begrenzen, und die Gewerkschaften bleiben stumm.

Rettungsschirm, Rettungspaket (Hunderte Milliarden schwer), Abwrackprämie, Krisen-Soli (vielleicht auch noch ein Osteuropa- und ein Dritte-Welt-Soli) lauten die neuen Begriffe und – Verstaatlichung. Ein Enteignungsgesetz wird beschlossen und damit zwanzig Jahre nach dem Mauerfall die DDR zur Erinnerung an die Zukunft.

Ein Monstrum namens Hypo Real Estate schreit nach immer mehr Milliarden, Bundestag und Bundesrat winken ein neues Konjunkturpaket von 50 Milliarden durch, für das künftige Generationen aufkommen müssen – wenn sie noch können.

Eine Horror-Inflation von zehn Prozent wird vorausgesagt (warum nicht gleich 20 oder 30 Prozent?), was bedeutet: Die Sparkonten, Lebensversicherungen, Rentenguthaben, Privatvorsorgen schmelzen dahin. Werden wir alle Proletarier?

Verrückte Dialektik: Ein System, das erklärtermaßen auf Wettbewerb und Leistung setzt, hat die Einkommen von der Arbeit und der Leistung entkoppelt und den Egalitarismus vorangetrieben. Und nebenbei erfährt man, daß unsere politische Klasse im Finanzcasino ein Zusatz-Roulette gespielt hat: Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien, die nie und nimmer in die Euro-Zone hätten aufgenommen werden dürfen, stehen vor dem Staatsbankrott. Es sei denn, der deutsche Michel lädt sich diese Bürde auch noch auf. Indes versichern ihn seine Politiker, für Steuerentlastung gäbe es keinen Spielraum.

Die eloquenten Experten, flexiblen Leistungsträger, globalisierten Superhelden, die über die Stubenhocker und nationalstaatlich Beschränkten mitleidig lächelten, sie schweigen oder rufen – nach dem Staat als dem einzigen noch verläßlichen Adressaten. Die Politiker animieren die Bürger, neuen Konsummüll zu kaufen, als sei das der Ausweg und die Lösung der Sinnfrage.

Sogar des Finanzministers verbales Schnellfeuer gerät ins Stocken. Schien es neulich nur auf dem Bildschirm so oder war Peer Steinbrücks Gesicht tatsächlich rotfleckig, als säße ihm die Angst im Nacken? So wie den SED-Funktionären, die 1989 den Demonstranten den faktischen Staatsbankrott der DDR erklären mußten, während diese traurig, hilflos, wütend riefen: Aber wir haben doch immer gearbeitet! Nur daß diesmal kein D-Mark-Staat bereitsteht, um die Pleite aufzufangen.

Es geht einem wie Hugo von Hofmannsthal, der vor 107 Jahren in seinem „Chandos-Brief“ erklärte, ihm seien die Worte über „die Menschen und ihre Handlungen“ abhanden gekommen: „Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Blick umspannen.“

Es ist nicht falsch, den überbordenden Sozialstaat zu kritisieren, der allzu oft nur die soziale Verwahrlosung subventioniert. Doch wer Sozialbetrug und Phlegma des Prekariats attackiert, wird über die Asozialität in Nadelstreifen nicht schweigen dürfen. Was ist übrigens rechts daran und was ist links? Und es geht nicht mehr nur um subjektives Versagen, sondern um Systemfragen.

Was uns als „politische Kultur“, „Debattenkultur“, „demokratische Entscheidungsprozesse“ usw. angepriesen wurde, hat sich im Nebensächlichen erschöpft, war eine Kulissenschieberei, hinter der sich die echten, die harten Prozesse, deren Folgen wir jetzt spüren, ungestört vollzogen haben. Wie fühlte man sich eingeschüchtert von den „intelligenten Finanzprodukten“! Wie modern, hochkomplex und weltläufig das klang. Tief in sich ahnte man den faulen Zauber, war bloß zu skrupulös, um seinen Zweifel auszudrücken. Und nun? Es gab nicht Intelligentes, nur Skrupellosigkeit und gerissene PR. Jede Bundestagsdebatte, jede Christiansen-Illner-Will-Sendung, die man sich erspart hat, erweist sich jetzt als gerettete Lebenszeit!

Verschämt holt man die Bücher hervor, die man 1989 in die hinterste Ecke gepfeffert, in instinktiver Voraussicht aber nicht weggeworfen hatte, und liest bei Karl Marx: „Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß, 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens.“ Oder Lenins Analyse des modernen Kapitalismus als faulend, parasitär und absterbend.

Seine Fäulnis und sein Parasitentum liegen auf der Hand, aber deswegen stirbt man nicht, zumal die angedachte Alternative zwischen 1917 und 1989 klar widerlegt wurde.

Um das kapitalistische System wieder flottzumachen, sollen seine turbokapitalistisch-angelsächsischen Auswüchse zurückgeschnitten werden. Die EU kramt dazu das Erbe des Staatssozialismus hervor. Die „Aufsicht oder Regulierung“ der Finanzmärkte soll „lückenlos und unabhängig“ sein. Sind wir nicht längst alle Finanzmarkt? Die aktuellen Überwachungs- und Schnüffelgesetze, die Kontrolle und Speicherung intimer Daten, die Einschränkung des Versammlungsrechts, die Rasterfahndung gegen Tausende von Bahnmitarbeitern, die in immer kürzeren Abständen losgetretenen Gesinnungs- und Loyalitätskampagnen, stimmen doppelt mißtrauisch.

Geht es tatsächlich nur um kriminelle Finanzjongleure (was ist eigentlich mit den Landesbanken, die ebenfalls Milliarden verzockt haben?), Korruption und Terrorismus oder nicht auch um die präventive Abwehr sozialer und politischer Unruhen, die durch den Kampf der Ethnien zusätzlich befeuert würden, ja um eine Globalsteuerung der Individuen?

Um in die zersplitterte, geborstene Welt eine halbwegs gedankliche Ordnung zu bringen, reichen die Begriffe des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr aus.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen