© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/09 06. März 2009

Im Schneeland dampft der Kessel
Asien: Am 10. März jährt sich zum fünfzigsten Mal der Beginn des tibetischen Volksaufstands
Baal Müller

In den letzten Wochen waren chinesische Wirtschaftsvertreter mit dicken Geldkoffern unterwegs: Am 12. Februar kündigte der staatliche Aluminium-Konzern Chinalco die bisher größte Auslandsinvestition an, bei der 19,5 Milliarden Dollar in einen australischen Bergbauriesen investiert werden sollen, und wenige Tage später reiste eine Delegation durch Europa, um Industriegüter für rund 15 Milliarden Dollar einzukaufen. Die Termine für diese Shoppingtouren sind mit Bedacht gewählt, denn angesichts der üppigen Aufträge wird sich die westliche Politik auf wohlfeile Appelle an die chinesische Regierung beschränken, mit den „Bemühungen“ um die Einhaltung der Menschenrechte „nicht nachzulassen“, wenn sich am 10. März der Beginn des tibetischen Volksaufstandes zum fünfzigsten Mal jährt.

Einreiseverbot für Ausländer

Nach den Unruhen des vergangenen Jahres, die der Regierung in Peking ihren Plan, die Olympiade als gigantische PR-Maßnahme zu inszenieren, gründlich verdorben haben, liegt eine drückende Spannung über Tibet. Die Polizei- und Militärpräsenz wurde massiv erhöht, und trotz starker Beschränkungen für internationale Journalisten und eines bis Ende März geltenden Einreiseverbots für alle übrigen Ausländer dringen immer wieder Nachrichten von Demonstrationen, Inhaftierungen oder jüngst von der versuchten Selbstverbrennung eines buddhistischen Mönchs an die Weltöffentlichkeit. Das Schneeland gleicht einem brodelnden Kessel, über den ein Deckel aus Zensur und Repression gestülpt wurde.

Während die chinesische Politik auf Zeit spielt, läuft dem Dalai Lama die Zeit davon. 2008 hat das geistliche und weltliche Oberhaupt der Tibeter immerhin die Wiederaufnahme von Verhandlungen über den zukünftigen Status seines Landes erreichen können, doch als sich die Wogen der medialen Aufmerksamkeit wieder geglättet hatten, lehnte die KP-Führung die Vorschläge der tibetischen Exilregierung als indiskutabel ab, obwohl diese mit ihren Forderungen nach kultureller Autonomie, einer Ansiedlungsbeschränkung für Han-Chinesen und einem Ende der Ausbeutung tibetischer Umweltressourcen lediglich die Einhaltung der Verfassung der Volksrepublik angemahnt hat.

Mit seiner Position eines „Mittleren Wegs“, die tief im buddhistischen Denken und besonders der in Tibet vorherrschenden Madhyamaka-Philosophie verankert ist, sitzt der Dalai Lama zwischen den Stühlen: Vielen, besonders den im Tibetan Youth Congress (TYC) organisierten jungen Tibetern, geht sein Einsatz für eine bloß innenpolitische Autonomie nicht weit genug, und sie fordern den notfalls auch bewaffneten Kampf um die nationale Unabhängigkeit, während das chinesische Regime hofft, daß die Sezessionsbestrebungen nach dem Ableben des 73jährigen Friedensnobelpreisträgers bei fortgesetzter Sinisierungspolitik allmählich verebben werden.

Angesichts des Kräfteverhältnisses zwischen dem 6-Millionen-Volk und der aufstrebenden Großmacht mit ihren 1,3 Milliarden Einwohnern erscheinen neue Aufstandsversuche, die der Dalai Lama vehement ablehnt, als sinnloses Blutvergießen und würden nur einen Vorwand für weiteren Terror liefern, andererseits wird es neue Verhandlungen nur dann geben, wenn der Dampf im Kessel heiß genug bleibt und gelegentlich mit lautem Zischen entweicht.

Freilich hat der Bauernsohn Lhamo Dhondrub, der 1937 als Inkarnation des 14. Dalai Lama („ozeangleicher Lehrer“) erkannt wurde, gelernt, sich zwischen sehr unterschiedlichen Stühlen zu bewegen: Von seinem Thron im Potala-Palast führte ihn sein Weg auf den provisorischen Klappstuhl des Exils im nordindischen Dharamsala, wo er das geistige Fundament seines untergegangenen Reiches umfassend reformierte und dadurch bewirkte, daß ausgerechnet der geheimnisumwitterte esoterische Vajrayana-Buddhismus zu einem beliebten Sinnangebot für den religiös ausgelaugten postmodernen Westen werden konnte. Heute ist der tibetische Mönch und Linienhalter der Gelug-Schule in Deutschland beliebter als der deutsche Papst, sitzt auf Lehrstühlen in Harvard oder in den Ledersesseln der Regierungsvorzimmer, und doch ist der globale Tausendsassa für die tiefreligiösen Tibeter noch immer der Gottkönig und eine Emanation des Chenresi, des „Buddhas des Mitgefühls“.

Viele zerstörte Klöster wurden wieder aufgebaut

Das Gerücht, daß er von den Chinesen entführt und ermordet werden solle, war es auch, das in jenen Märztagen vor einem halben Jahrhundert zum Aufstand führte. Zwar hatte Tibet seit dem Einmarsch der Volksbefreiungsarmee 1950 und dem erzwungenen 17-Punkte-Abkommen des darauffolgenden Jahres seine – von China bestrittene, aber de facto bestehende und völkerrechtlich wiederholt anerkannte – Souveränität eingebüßt, doch waren die Kämpfe, vor allem in den von kriegerischen Nomaden besiedelten östlichen Landesteilen Kham und Amdo, nie ganz abgeklungen.

Dieser Guerillakrieg der Khampa, der sich primär gegen Kollektivierungsmaßnahmen, Enteignungen und Waffenverbote gerichtet hatte, weitete sich 1959 zur Erhebung in der Hauptstadt Lhasa aus, nachdem bekannt geworden war, daß der Dalai Lama zu einer Theatervorstellung im Hauptquartier der Volksbefreiungsarmee geladen sei: Am 10. März blockierten rund 300.000 Menschen den Norbulingka-Palast, die Sommerresidenz des Dalai Lama, um ihn am Besuch der Veranstaltung zu hindern; an den folgenden Tagen forderten Demonstranten zunehmend auch die Unabhängigkeit des Landes, und beide Seiten zogen immer mehr Truppen zusammen.

Als sich die Eskalation abzeichnete, wurde der Dalai Lama von seiner Leibgarde am 17. März unerkannt aus dem Palast geleitet – zwei Tage später begannen die Kämpfe mit der Bombardierung des Norbulingka. Rund 86.000 Tibeter sollen während des achtundvierzigstündigen Aufstandes ums Leben gekommen sein, doch wird sich die genaue Zahl wohl niemals ermitteln lassen, da insbesondere die Anzahl der Mönche, die bei den nachfolgenden „Säuberungsaktionen“ ermordet wurden, unbekannt ist. Da die Geistlichkeit als identitätsstiftender Faktor den kommunistischen Machthabern besonders verhaßt war, wurde während der Kulturrevolution von 1966 bis 1976 ein regelrechter Vernichtungsfeldzug gegen sie geführt: Fast 6.000 Klöster und Tempel sind dabei zerstört worden; die Zahl der tibetischen Opfer, die die Gewaltherrschaft bis heute forderte, wird auf 1,2 Millionen geschätzt.

Seit den achtziger Jahren wurden indes viele dieser Klöster wieder aufgebaut, der Buddhismus erfreut sich auch bei den Chinesen eines wachsenden Interesses, und ansatzweise bildet sich eine Zivilgesellschaft aus, die auf Demokratisierung und Pluralismus drängt. Womöglich werden Kapitalismus und Konsumstreben, neue Medien und die Überalterung der chinesischen Gesellschaft das Ihre zu einer Lockerung der Verhältnisse beitragen, auch wenn das Reich der Gottkönige auf dem Dach der Welt nicht wiedererstehen wird.

Foto: Potala-Palast, bis 1959 Regierungssitz des Dalai Lamas in Tibets Hauptstadt Lhasa: Das Reich der Gottkönige ist untergegangen

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