© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/09 13. März 2009

Aus dem Gegensatz Stärke gewinnen
Doppelbiographie des Germanisten Manfred Geier über die Brüder Alexander und Wilhelm Darwins Welt. Wie bereits das von Humboldt
Fabian Schmidt-Ahmad

Die Entfremdung der Deutschen von sich selbst – und das auf nahezu allen Gebieten – gehört zu den auffälligsten psychologischen Erscheinungen der Gegenwart. Besonders deutlich wird dieses Phänomen am Umgang mit der Epoche der deutschen Klassik. Schreibt ein heutiger Deutscher über die Menschen jener Zeit, so hat es häufig den Anschein, daß er nicht nur eine ihm völlig fremde Welt beschreibt, sondern daß diese Welt von Menschen bevölkert wird, die gleichsam einer anderen Gattung angehörten. Eine ungeheure Distanz herrscht zwischen der Art, wie ein Novalis dachte und schrieb und dem, wie man heute über Novalis denkt und schreibt; sofern man diesem überhaupt noch einen Wert zuschreibt.

Jemand, der nicht nur biographisch den Untergang der deutschen Klassik überlebte, ist der berühmte Naturforscher und Entdecker Alexander von Humboldt (1769–1859). Auch heute noch gilt an naturwissenschaftlichen Fakultäten Unkenntnis nicht als ein vornehmes Zeichen wissenschaftlichen Fortschritts, sondern als Inkompetenz. Doch wird oft ein seltsam abstraktes Humboldt-Bild gezeichnet: Ein Humboldt, der irgendwie den Empirismus als wissenschaftliche Methode vorantrieb – doch darüber hinaus scheint er in Luft zu wurzeln. Womit die verschiedenen Autoren subjektiv auch recht haben, besteht die Epoche der deutschen Klassik für sie doch nur aus einem idealistischen Nichts.

Wer dagegen ganz in dem Geiste des deutschen Idealismus aufging, war Alexanders Bruder, der Sprachforscher und Diplomat Wilhelm von Humboldt (1767–1835), nicht zuletzt wohl durch diese Eigenschaft heute nahezu vergessen. Schon einander galten sich die beiden Brüder als Gegensatz; eine Sicht, die in der Rezeption aufgegriffen wurde: Hier der mit sinnenfreudiger Neugier erfüllte Alexander, der gleichsam als wiedergeborener Makedonier in seinen Reisen das Erdenrund umfassen wollte. Dort der stille, in sich gekehrte Wilhelm, der in der Tegeler Waldeinsamkeit des Familiengutes bei Berlin seinen Sprachstudien nachging. Eine Entgegensetzung, die leicht zu einer vereinseitigenden Schematisierung verführt.

Nicht als gegenseitige Negation, sondern als produktive Steigerung der eigenen Arbeit empfanden die ungleichen Brüder ihr unterschiedliches Naturell. Eine These, die der Literaturwissenschaftler Manfred Geier nun mit einer Doppelbiographie vehement verteidigt. Dabei zeigt Geier nicht nur durch profunde Materialkenntnis, wie intensiv der Gedankenaustausch zwischen den Brüdern und ihrem Umfeld war; darüber hinaus gelingt ihm ein teilweise ganz neuer und fruchtbarer Zugang zum Werk beider. Daß Geier nebenbei ein packendes Zeitsujet der Weimarer Klassik vorlegt, ist da schon beinahe Nebensache.

Großes Augenmerk legt Geier auf ein Porträt der jungen Humboldts im geistigen Umfeld der Berliner Aufklärung. Die Philosophie Immanuel Kants – Wilhelm begann eine intensive Rezeption der „Kritik der reinen Vernunft“ bereits Jahre bevor diese eine metaphysische Revolution auslösen sollte – wird dabei von Geier akzentuiert. Bewegt sich der Hamburger Wissenschaftler – selbst Kant-Experte – damit noch im Deutungsmuster, wie es der Pädagoge Eduard Spranger wegweisend vor genau hundert Jahren in seiner Studie „Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee“ formulierte, so macht Geier jedoch deutlich, daß für die Brüder bald jemand anderes die Funktion eines Zentralgestirns einnahm – Johann Wolfgang von Goethe.

Alexanders zentrale Forschungsfrage kreiste um das Verhältnis der organischen zur anorganischen Chemie. Wie war es möglich, daß sich Substanzen in einem lebendigen Organismus anders verhalten, als außerhalb? Alexander griff zunächst die Vorstellung einer genuinen „Lebenskraft“ auf, die auf die Stoffe wirke. Doch in welcher Weise soll der Stoff geformt werden? Goethe war überzeugt, daß sich ihm durch reine Naturbeobachtung die Vielfalt der pflanzlichen Erscheinungen in dem einzigen Bild einer „Urpflanze“ offenbare. In seiner Lehre der Metamorphose konnte er dadurch alle tatsächlichen und möglichen Erscheinungsformen von Vegetation als Ausdruck eines einheitlichen Wesens zusammenfassen.

Aus dieser Anschauung heraus studierte Goethe die ersten botanischen Schriften des jungen Alexander. „In seinen Notizen zur Lektüre hielt er fest, daß es vielleicht hilfreich sein könne, Humboldts Suche nach den Kräften des Lebens durch die eigenen morphologischen Ansichten zur ‘Gestalt’ zu ergänzen!“ Alexander ist begeistert. Als er seinen Bruder 1794 in Jena besucht, wohin dieser gezogen ist, um dem von ihm verehrten Friedrich Schiller nahe zu sein, kommt es zu einem regen Gedankenaustausch. Die Besonderheit des Goetheschen Empirismus ist, daß er die Trennung zwischen Experiment und Experimentator aufhebt: Naturbeobachtung und theoretische Reflexion fallen hier in eins zusammen. Der Mensch ist Erkenntnisorgan der Natur selbst geworden.

„In den Wäldern des Amazonenflusses, wie auf dem Rücken der hohen Anden erkannte ich, wie von einem Hauche beseelt, von Pol zu Pol nur ein Leben ausgegossen ist in Steinen, Pflanzen und Tieren und in des Menschen schwellender Brust. Überall ward ich von dem Gefühle durchdrungen, wie mächtig jene Jenaer Verhältnisse auf mich gewirkt, wie ich durch Goethes Naturansichten gehoben, gleichsam mit neuen Organen ausgerüstet worden war“, erinnert sich später Alexander in Dankbarkeit. Noch sein berühmtes Alterswerk „Kosmos“ ist von der Morphologie Goethes durchdrungen.

Auch sein Bruder Wilhelm beginnt mit naturkundlich-morphologischen Forschungen, die er aber bald zugunsten der Geisteswissenschaften und besonders des Sprachstudiums zurückstellt. Auch hier gelingt dem Linguisten Geier eine kompetente Führung durch die nicht ganz eingängige Sprachphilosophie Wilhelms. Mehr noch, erscheint es nach Geiers Befund doch nicht zu verwegen, auch Wilhelms Sprachforschungen in einem neuen Licht zu sehen. Sprache als Tätigkeit, Sprache als Erkenntnismöglichkeit des Menschen – ist es vielleicht nicht zu vermessen, auch hier wieder eine vertraute Methode, nur auf gänzlich anderem Gebiete, zu sehen? Indem sie den Menschen im Goetheschen Sinne in den Mittelpunkt stellten, haben sich die beiden Brüder in ihrem unterschiedlichen Drang doch wiedergefunden.

Manfred Geier: Die Brüder Humboldt. Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009, gebunden, 359 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

Foto: Alexander und Wilhelm von Humboldt: Den Menschen in den Mittelpunkt gestellt

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