© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/09 20. März 2009

„Ihr unbedingter Machtwille“
Die Kritik an Merkel wächst. Droht ihr ein Aufstand? Was ist das Geheimnis der Kanzlerin ohne Eigenschaften?
Moritz Schwarz

Herr Dr. Müller-Vogg, in der CDU rumort es, seit die Umfragewerte steil abgestürzt sind. Bricht in der Partei ein Aufstand gegen Angela Merkel aus?

Müller-Vogg: Nein, für einen Aufstand brauchte es entschlossene Putschisten und einen glaubwürdigen Thronfolger – beides ist weit und breit nicht in Sicht.

Konrad Adenauer, Enkel des Altkanzlers, erwog jüngst den Parteiaustritt, Sachsen-Anhalts Ex-Ministerpräsident Werner Münch hat ihn schon vollzogen. Die Wähler laufen scharenweise weg. Warum gibt es dennoch keine ernsthafte Fronde gegen die Kanzlerin?

Müller-Vogg: Wer sollte die anführen? Der schwer angeschlagene Koch? Seehofer, der um den Einzug der CSU ins EU-Parlament bangt? Wulff, der keinerlei Ambitionen erkennen läßt? Rüttgers, dem die Sozialdemokratisierung der CDU noch nicht weit genug geht?

Ist es Angela Merkel oder die Unfähigkeit ihrer Konkurrenten, die sie an der Macht hält?

Müller-Vogg: Die eigene Stärke ist immer auch eine Folge der Schwäche der anderen. Aber Merkel hat Fraktion und Adenauer-Haus fest im Griff – nicht zu vergleichen mit 1989, als Kohl beinahe vom eigenen Apparat gestürzt worden wäre.

Was ist das Geheimnis Angela Merkels?

Müller-Vogg: Das ist kein Geheimnis: ihr unbedingter Machtwille.

Der macht Merkel unschlagbar?

Müller-Vogg: Das ist sie nicht: Geht die Bundestagswahl im Herbst verloren, wird das wohl das Ende ihrer Karriere sein. Andererseits: Wenn Sie sich ihren politischen Aufstieg anschauen, dann sehen Sie, daß sie machtpolitisch meist geschickter operiert hat als ihre Rivalen.

Was also steckt hinter den Angriffen auf sie?

Müller-Vogg: Falls die Union am 27. September nur 32 Prozent bekommt, verliert sie etwa zwanzig bis dreißig Mandate. Da man nicht genau weiß, welche Mandate das sein könnten, müssen etwa fünfzig bis sechzig Fraktionsmitglieder um ihre politische Existenz fürchten. Da kommt keine Freude auf. 

Ist der Fall Merkel also nur eine Frage von politischen Besitzständen?

Müller-Vogg: Nein. Die CDU hat in der Großen Koalition eindeutig an Profil verloren. Wer hätte je gedacht, daß ausgerechnet eine CDU-Kanzlerin den Mindestlohn durch die Hintertür einführt? Oder dafür sorgt, daß der Staat beim Elterngeld solchen Kindern, die vom Papa gewickelt werden, mehr zahlt als solchen, bei denen das „nur“ die Mama tut. Es ist doch bezeichnend, daß die SPD stolz verkündet, die Koalitionsvereinbarung trage eine „sozialdemokratische Handschrift“.

Die CSU-Führung befürchtet inzwischen, die Person Merkels bewirke den Verlust entscheidender konservativer Stammwähler.

Müller-Vogg: Ihre Kritik am Papst hat viele erbost. Tenor: „Was immer in Rom falsch gelaufen sein mag, so geht man mit dem Heiligen Vater nicht um!“ Das kann an die Substanz gehen. Kirchentreue Katholiken wählen, wenn sie enttäuscht werden, nicht einfach – wie die wirtschaftspolitisch Enttäuschten – FDP und bleiben somit dem „bürgerlichen Lager“ erhalten. Nein, die könnten am Wahltag zu Hause bleiben, so daß ihre Stimmen für Schwarz-Gelb fehlten. Siebzig Prozent der regelmäßigen Kirchgänger wählen Union, also zehn bis zwölf Prozent der Unionswähler. Und im Fall Steinbach ist der Eindruck entstanden, Merkel lasse nationalistische Polen eine deutsche Personalfrage entscheiden. Zudem hat der Fall Steinbach bei den Konservativen die etwas in den Hintergrund getretene Papst-Schelte wieder wachgerufen. 

Der Politologe und Merkel-Biograph Gerd Langguth rät der Kanzlerin: „Mehr Konservatismus wagen ist falsch: Denn wahre Konservative sind unter den Wählern die Minderheit.“

Müller-Vogg: Würde die Union mit ihrem Programm aus den Siebzigern antreten, dann hätte sie in der Tat keine Chance. Aber wenn sie es nicht schafft, den konservativen Teil bei der Stange zu halten, dann auch nicht. Das aktuelle Umfrage-Polster für Schwarz-Gelb ist nicht dick genug, um den Verlust von zwei, drei Prozentpunkten zu überstehen.

Und wie will sie das machen?

Müller-Vogg: In einem Bild-Interview hat sie sich Mitte letzter Woche deutlich zum „C“ bekannt. Das war natürlich ein Signal.

Für wie glaubhaft halten Sie Merkel da?

Müller-Vogg: Angela Merkel trägt ihren Glauben nicht wie eine Monstranz vor sich her. Doch an ihrer christlichen Grundeinstellung zweifle ich nicht. Allerdings lassen sich aus der Bibel nun mal keine konkreten politischen Handlungsanweisungen ableiten. 

Die Publizistin Mariam Lau hat unlängst in einem Beitrag für die „Welt“ zusammengetragen, wo Merkel mit den Kirchen über Kreuz liegt – da kam einiges zusammen.

Müller-Vogg: Natürlich gab und gibt es immer wieder Irritationen. Etwa wegen ihres  Kurses in der Stammzellendebatte vor zwei Jahren, die Frau Lau zum Beispiel anführt. Allerdings ist das kein Thema, das eine große Zahl von Wählern bewegt.

Ende Januar hat sich die christliche Kanzlerin ganz schwesterlich und öffentlichkeitswirksam im Kanzleramt mit Alice Schwarzer getroffen – der Frau, die die Parole „Mein Bauch gehört mir“ populär gemacht hat. Bilanz für Deutschland bis heute: geschätzte acht Millionen durch Abtreibung getötete Kinder.

Müller-Vogg: Dieser Schwarzer-Auftritt im Kanzleramt hat viele begeistert, die alles wählen – nur niemals die CDU. Man sollte aber nicht übersehen, daß in der Abtreibungsfrage sicherlich Angela Merkels Sozialisation in der DDR eine Rolle spielt. Aber selbst wenn die Union die absolute Mehrheit im Bundestag hätte, könnte sie heute eine Strafbewehrung der Abtreibung gesellschaftlich nicht mehr durchsetzen.

In Ihrem Buch über Angela Merkel bekennt sie sich – vor der Bundestagswahl 2005 – noch zu einer konservativen Familienpolitik. Heute verantwortet sie eine, die Bischof Walter Mixa zu Recht „sozialistisch“ nennt.

Müller-Vogg: Politik ist – gerade im deutschen System – ohne Kompromisse nicht denkbar. Ludwig Erhard hat einmal gesagt, natürlich müsse er sich als Wirtschaftspolitiker manchmal gegen die reine Lehre versündigen. Entscheidend sei aber, daß er wenigstens noch wisse, wann er sich versündige. Ich habe den Eindruck, daß manchem in der CDU viele Kompromisse gar nicht mehr schwerfallen.

Der Publizist Gabor Steingart sieht unser politisches System immer tiefer in eine existentielle Vertrauenskrise schlittern – Stichwort: Politikverdrossenheit und Nichtwähler –, deren Ausmaß und Bedrohlichkeit uns eines Tages völlig überraschen werde. Als Ursache dafür sieht er die Volksferne der politischen Klasse, als deren prominenteste Verkörperung er wiederum Angela Merkel beschreibt.

Müller-Vogg: Jedes System gebiert seine spezifischen Repräsentanten. Bei uns bestand 1948/49 die Furcht, es könne nochmals ein brauner oder roter Hitler auf demokratische Weise an die Macht kommen. Deshalb haben die Verfassungsväter ein System der „checks and balances“ geschaffen: Verhältniswahlrecht, Zwang zu Koalitionen, Dualismus Bundestag/Bundesrat. Inzwischen haben sich längst die Nachteile dieses Systems gezeigt. Ich bin überzeugt, daß ein Mehrheitswahlrecht den Regierungswechsel erleichtern und auch das Interesse an der Politik beleben würde. Der eine regiert, der andere opponiert. Und wer nicht gut regiert, wird abgelöst – Punkt.

Im „Spiegel“ schreibt Steingart zur Profillosigkeit Merkels: „Tagelang schwieg sie zu staatlichen Garantien für Spareinlagen, bevor sie aus heiterem Himmel eine Garantie aussprach. Ein europäisches Vorgehen gegen die Krise fand sie unnötig, bevor sie es richtig fand. Sie lehnte ein Konjunkturprogramm ab, um dann gleich zwei davon zu verabschieden.“

Müller-Vogg: Man sollte fair sein: Die Krise hat alle überrascht. Selbst Top-Banker hatten offenbar keinen blassen Schimmer, wie schwer diese Krise ausfallen würde. Ob das, was die Große Koalition in den vergangenen Wochen beschlossen hat, richtig, falsch oder ungenügend war, werden wir wohl erst in ein paar Jahren wissen. Ich maße mir da noch kein abschließendes Urteil an.

Besonders die CSU fürchtet nun eine Kanzler-Wahlschlappe. Landesgruppenchef Peter Ramsauer hat mittlerweile öffentlich kundgetan, die Bayern wollten sich künftig gegenüber Merkel „nicht mehr zurückhalten“. Fürchtet die Kanzlerin diese Drohung?

Müller-Vogg: Die CSU wird gegenüber der CDU nur dann eine härtere Gangart einlegen können, wenn sie bei der Europawahl ins Straßburger Parlament einzieht. Das ist aber nicht sicher. Sollte die CSU am 7. Juni scheitern, hätte die Union ein weit größeres Problem als die Muskelspiele der Bayern.

Die CSU wird sagen: „An dieser Niederlage ist auch Angela Merkel schuld!“

Müller-Vogg: Sicher wird sie das sagen. So wie die CSU aus meiner Sicht zu Recht darauf hingewiesen hat, daß die Landtagswahl weniger schlimm ausgegangen wäre, wenn Merkel die CSU beim Thema Steuersenkung nicht so gnadenlos abgewatscht und damit demonstriert hätte, daß sie die CSU nicht richtig ernst nimmt. Im Umgang mit der CSU übt die Kanzlerin offenbar noch immer Rache an Stoiber.

Steht die Union nach der Europawahl möglicherweise vor einer spontanen K-Frage?

Müller-Vogg: Nein.

Was, wenn schwere Verluste im Juni ein Desaster für den Herbst unvermeidlich machen?

Müller-Vogg: Bei der Europawahl 2004 erzielte die Union noch 44,5 Prozent. Das wird sie nicht wiederholen können, weil damals Rot-Grün regierte und der Unmut Wasser auf die Mühlen der CDU war. Auch die SPD wird schlechter abschneiden, aber prozentual nicht so stark wie die Union. Denn sie lag 2004 nur bei 21,5 Prozent. Die CDU/CSU wird also am Wahlabend auf jeden Fall schlecht aussehen, und das wird weiter für Ärger sorgen. Dann kommen vier Wochen vor der Bundestags- drei Landtagswahlen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die CDU im Saarland, in Sachsen oder in Thüringen Stimmen gewinnt. Im Saarland und in Thüringen könnte sie gar die Macht verlieren.

In Ihrem neuen Buch legen Sie nahe, solche Überlegungen spielten eh keine Rolle, denn im Herbst kommt sowieso Rot-Rot-Grün.

Müller-Vogg: Nein, ganz so sage ich das nicht. Meine These lautet: Wenn die SPD kann, dann wird sie auch im Bund mit der Linkspartei koalieren – allen heiligen Eiden zum Trotz. Müntefering strebt ja explizit in allen Ländern Rot-Rot an. Theoretisch in sechzehn Bundesländern rot-rote Regierungen zu haben, im Bund die Linke aber für nicht koalitionsfähig zu halten – das ist schon eine ziemlich wirre Strategie. Was den 27. September angeht, so wird die SPD den plumpen Wortbruch à la Ypsilanti nicht wiederholen. Sollte es für Schwarz-Gelb nicht reichen, dann wird es zunächst eine Fortsetzung von Schwarz-Rot geben. Aber das wird die SPD keine weiteren vier Jahre durchhalten. Dafür wird der Druck von links zu groß  – innerhalb der SPD wie auch von seiten der Linkspartei. 

Dann folgt die „Volksrepublik Deutschland“?

Müller-Vogg: Das ist natürlich ein provozierender Titel, und ich habe das Buch auch mit einem Augenzwinkern geschrieben. So gibt es eine entsprechende Runde bei Anne Will mit all den üblichen Sprechblasen und ein fiktives Telefonat Schröder/Steinmeier. Aber ich stütze mich in meiner „rot-rot-grünen Koalitionsvereinbarung“ auf die Beschlußlagen der drei beteiligten Parteien. Was uns summa summarum dann tatsächlich blühen wird, ist: weniger Wachstum und weniger Wohlstand und die von der Linken seit langem erstrebte Äquidistanz zu Moskau wie Washington.

Ist es nicht egal, ob Rot-Rot-Grün kommt? In zehn Jahren verwirklicht sonst die CDU deren Inhalte.

Müller-Vogg: Auch in bezug auf die CDU gilt: Die Hoffnung stirbt zuletzt!

 

Dr. Hugo Müller-Vogg: war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der FAZ. Seitdem ist er als freier Journalist tätig (www.hugo-mueller-vogg.de), unter anderem als Kommentator der Bild-Zeitung, des Nachrichtensenders N24 und bis 2005 für die Welt am Sonntag. Außerdem wurde der 1947 in Mannheim geborene Volkswirt und Politikwissenschaftler durch seine Gesprächsbände mit Angela Merkel („Angela Merkel. Mein Weg“, Hoffmann & Campe, 2005), Horst Köhler, Christian Wulff und Roland Koch bekannt.

Sein eben erschienenes Buch „Volksrepublik Deutschland. ‘Drehbuch’ für die rot-rot-grüne Wende“ (Olzog) ist eine gewitzte journalistische Anti-Utopie: Es beginnt am Nachmittag des 27. September 2009, dem Wahlsonntag, und entwirft in frappierend realistischem Stil den drohenden Verlauf der Ereignisse bis zur Bildung der ersten rot-rot-grünen Bundesregierung in Berlin.

Foto:  Angela Merkel inmitten ihrer Getreuen (Dieter Althaus, Stanislaw Tillich, Wolfgang Böhmer, Ronald Pofalla): „Geht die Bundestagswahl verloren, wird das wohl ihr Ende sein“

 

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