© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/09 27. März 2009

Fragwürdige Zahlen
Gewaltstudien: In ein Politraster gepreßt und zum Horrorbefund verdichtet
Thorsten Hinz

In Brechts Theaterstück „Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher“ antwortet der brave Bauer Sen einem Tui (die Kurzform von „Tellek-tuell-in“, Brechts spöttischer Bezeichnung für den allzeit dienstbaren Kopfarbeiter), der ihm „eine Meinung über die politische Lage“ für billiges Geld anbietet: „Schämst du dich nicht? Was machst du aus dem Denken? Das ist das Edelste, was der Mensch tun kann, und du machst es zu einem schmutzigen Geschäft!“

Treffsicherer lassen sich die jüngsten Aktivitäten von Professor Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover, nicht auf den Punkt bringen. Um Aufmerksamkeit für seine Studie „Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt“ zu erlangen, die vom Bundesinnenministerium mit 650.000 Euro finanziert wurde, deutete er sie ideologisch und appellierte an primitive politische Instinkte. Seine Erwartungen gingen voll auf.

Die Rheinische Post titelte: „Deutsche Jugend driftet nach rechts“. Der Stern: „Nazis haben den größten Zulauf“. Das Hamburger Abendblatt: „Erschreckende Studie: Jeder siebte Jugendliche ist ausländerfeindlich“. Letzteres soll sogar auf 40,4 Prozent der 15jährigen Deutschen zutreffen, 14,2 Prozent gelten als „sehr ausländerfeindlich“. Dazu genügt bereits die Meinung, daß man „lieber von deutschen Personen in ihrer Nachbarschaft umgeben sein möchte als von anderen Nationalitäten“. Wie man zu solcher Auffassung wohl kommt?

Christian Pfeiffer geht es nicht um Verstehen und Verständnis, er sekundiert einer Politik der Einschüchterung. Nicht umsonst saß Innenminister Schäuble während der Präsentation neben ihm. Seine Verzerrung der Realitäten rechtfertigt die staatliche Überwachung, Disziplinierung und Bestrafung jener Bürger, die sich durch die offizielle Politik um ihre Zukunft betrogen fühlen. Er begibt sich auf das Niveau des Bielefelder „Gewaltforschers“ Wilhelm Heitmeyer, der alljährlich und gleichfalls unter großen Mediengetöse den Deutschen, die zum Beispiel die Ausbreitung islamischer Wert- und Rechtsvorstellungen skeptisch betrachten, eine wachsende „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ unterstellt.

Es ist der immergleiche, ermüdende Kreislauf: Fragwürdiges, oft durch manipulative Fang- und Suggestivfragen zustande gekommenes Zahlenmaterial wird in ein politisch-ideologisches Raster gepreßt und zum Horrorbefund verdichtet.

Die Büchsenspanner und Mitläufer in den Redaktionsstuben erzeugen daraufhin Druck beziehungsweise liefern der Politik den Vorwand, um die Mittel zur Volksverdummung – „Kampf gegen Rechts“ genannt – aufzustocken, was erstens das Entstehen politischer Alternativen jenseits des Parteienkartells verhindert und zweitens die materielle Existenz der Tuis, der Heitmeyers, Pfeiffers & Co., sichert. Tatsächlich plant der Kriminologe eine Anschlußstudie. Da der Faschismus-Begriff einer Dynamik unterliegt wie sonst nichts mehr in diesem Land, müssen die Kämpfer wider das Böse nicht fürchten, jemals brotlos zu werden.

„Rechts“ zu sein, „ausländerfeindlich“ oder gar „nazistisch“, ist mittlerweile ein quasi-kriminelles Stigma. Man kann daher von einer ideologischen Mobilmachung gegen große Teile der eigenen Jugend sprechen.

Als letzter Grund dafür wird stets die NS-Vergangenheit zitiert. In der Bundesrepublik wiederholt sich, was in der DDR Usus war. Die historisch-genetische Gemeinsamkeit beider deutscher Nachkriegsstaaten (ihre Herkunft aus der deutschen Niederlage, der Empfang ihrer Teil-Souveränität aus den Händen der jeweiligen Sieger und so weiter) wirkt sich langfristig stärker aus als die unterschiedliche Staatsstruktur.

Die Psychologin Annette Simon, eine Tochter der Schriftstellerin Christa Wolf, hat 1993 in dem Aufsatz „Antifaschismus als Loyalitätsfalle“ dargestellt, daß die DDR-Führung ein „quasi-sadistisches Über-Ich“ installiert hatte, welches Buße, Belehrung, Erziehung und Bestrafung verlangte – „und dies bis ins dritte Glied“ – und den Wert des Menschen an seiner Treue zur Staatsideologie maß. Simon nannte dieses System „sadistisch“, weil sein Herzstück die erzwungene und unentrinnbare Konfrontation der Kinder und Jugendlichen mit den Greueln der Vergangenheit war. Das Ziel war die politische Neutralisierung des Staatsvolks durch seine Neurotisierung. Der SED-Führung stand damit ein reibungslos funktionierendes Instrument zur Disziplinierung jeglichen Abweichlertums zur Verfügung.

Der DDR ging es um die Behauptung des Sozialismus. Die heutige Staatsideologie stellt auf den Schutz der individuellen Freiheit ab, die aber je länger, desto mehr zur Floskel verkommt, wie die Forderung nach nationalem Selbsterhalt als „verfassungswidrig“ abqualifiziert wird. Wer heute unter 30 ist, hat unmittelbare Gründe, sich durch das Wuchern von Parallelgesellschaften um seine Spielräume und Möglichkeiten gebracht zu sehen. Weil die Tuis als Teil des Systems keine Distanz zu ihm haben, können sie darin nur psychopathische oder kriminelle Abweichungen von der unhinterfragbaren Norm erkennen. Am Ende des Brecht-Stücks stehen Chaos und Rebellion, und auch die Tuis wälzen die Schuldfrage. Der letzte Satz gibt die Antwort: „Das wart ihr alle, und jetzt weg mit euch!“

Foto:  Der Kriminologe Pfeiffer ist bei der Suche nach Drittmitteln für neue Forschungsvorhaben fündig geworden

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