© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/09 03. April 2009

Applaus, Applaus!
Verfassungspatrioten feiern
Ronald Berthold

Die Finte war perfekt. Zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes tat die Türkische Gemeinde in Deutschland so, als ob ihr dieses Jubiläum besonders nahegehe. Als erster wollte der Verband der Bundesrepublik Deutschland zum Bestehen gratulieren. So feierte man schon Ende März – zwei Monate vor dem eigentlichen Verfassungstag am 23. Mai.

Und wie immer, wenn Minderheiten in Deutschland einladen, läßt sich die politische Klasse nicht zweimal bitten. Da müssen Wolfgang Schäuble oder Klaus Wowereit und selbst der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Hans-Jürgen Papier, einfach dabei sein. Und sie hielten artig ihre Reden, in denen sie natürlich nicht vergaßen, den an diesem grauen Frühlingstag demonstrierten Verfassungspatriotismus der Türken zu bejubeln. Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit (55) forderte auch gleich noch das kommunale Wahlrecht und die doppelte Staatsbürgerschaft für Türken. Applaus, Applaus!

Da konnte Schäuble nicht zurückstehen und den sich vermeintlich zum Grundgesetz bekennenden Türken auch noch mit auf den Weg geben, wie traurig es doch sei, daß Kinder aus Migrantenfamilien viel zu oft auf die Sonderschule geschickt werden, nur weil sie kein Deutsch können.

Dann war Kenan Kolat (49) an der Reihe. Der Chef der Türkischen Gemeinde zeigte seinen Landsleuten und der anwesenden Prominenz, was er unter Verfassungspatriotismus versteht. Ihm hatten es besonders die Grundrechte angetan – und er legte los mit einer Manöverkritik. Artikel 3, der die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz deklariert, müsse um den Diskriminierungsschutz für Migranten ergänzt werden, forderte er, damit diese vor dem „Assimilierungsdruck“ sicher seien. Auch der Artikel 6 stieß nicht auf die Gegenliebe Kolats. Daß Ehe und Familie unter dem Schutz des Staates stehen, werde im Zweifel gegen die Türken ausgelegt, behauptete er. So sei es unzumutbar, daß Menschen, die aus dem Ausland kommen und hier verheiratet werden, vor ihrer Einwanderung ein wenig Deutsch können sollen. Und so ging es weiter, Artikel für Artikel.

Vielleicht braucht der Verfassungspatriot Kolat ein wenig Nachhilfe in Sachen Grundgesetz, den ihm Schäuble, Wowereit und Papier an diesem Tag gratis hätten verpassen können. Denn in Artikel 19, Absatz 2 heißt es: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“

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