© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/09 10. April 2009

Gottes Sohn oder Justizopfer
Herrschaftswissen der Gebildeten: Protestantische Theologen zweifeln am Sühnetod Jesu
Karlheinz Weissmann

Als unlängst Burkhard Müller, Bonner Superintendent im Ruhestand, in mehreren Radioandachten des Westdeutschen Rundfunks (WDR) äußerte, daß er nicht an die Sühnekraft des Kreuzestodes Christi glaube, war nicht das überraschend, sondern die Heftigkeit der Reaktionen.

In einem Beitrag am 10. Februar hatte Müller gesagt: „Ich glaube an die Vergebung der Sünden, aber ich glaube nicht, daß Jesus für unsere Sünden gestorben ist.“ In seiner Andacht am 13. Februar bekräftigte er seine Haltung: „Weil der Gott Israels so entschieden Menschenopfer abgelehnt hat, sollten wir damit aufhören, Jesus als Menschenopfer für unsere Sünden zu deuten. Gott hat nicht den Tod Jesu gewollt.“ Und gegenüber der evangelischen Nachrichtenagentur idea sagte er: „Der Sühnegedanke ist nur einer unter vielen, und nicht der wichtigste.“ Es gebe keinen Grund, ihn zum Kern des christlichen Glaubens zu machen.

Nun hätte man eigentlich annehmen können, daß das Thema heute kaum noch zu Debatten führt, ein paar Atheisten befriedigt nicken, die Masse der Karteichristen desinteressiert bleibt und nur das Häuflein der praktizierenden Protestanten Unmut bekundet, kaum hörbar allerdings, da es keine Medienmacht hat und im Rahmen des innerkirchlichen Pluralismus keine Lobby.

Statt dessen macht das Internet intensive Debatten möglich, zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Katholiken und Evangelischen, Christen und Muslimen, Ahnungslosen und Bibelfesten. Was dabei vor allem überrascht, ist die Wiederentdeckung der neutestamentlichen Kernaussagen, die man von geistlicher Seite eher vergessen zu machen sucht oder so lange umdeutet, bis sie irgendwie ins Schema des Zeitgemäßen und Theologisch-Korrekten passen.

Im Zusammenhang der Passion geht es vor allem um die in den Evangelien festgehaltenen Äußerungen, denen zufolge Christus sein eigenes Sterben ankündigte und deutete. Sätze wie „Der Menschensohn muß viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen“ (Markus 8.31) oder die Einsetzung des Abendmahls, wo es heißt, er habe den Jüngern den Kelch gereicht, mit den Worten „das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden“ (Matthäus 26.28), behandeln die religiösen Spezialisten am liebsten als „nicht jesuanisch“ oder als „Gemeindebildung“. Was dabei prophetisch anmutet, erscheint als nachträgliche – „nachösterliche“ – Erfindung, eine Art wohlgemeinte Lüge der ersten Christen, um die Größe ihres Herrn zu beweisen.

Das alles ist auf eine Tendenz der evangelischen Theologie zurückzuführen, die seit dem 19. Jahrhundert immer stärker und heute vorherrschend geworden ist. Unter Verweis auf die „Historisch-kritische Methode“ wird jede Aussage des Neuen Testaments, die einen konkreten geschichtlichen, vor allem biographischen, Rahmen voraussetzt, unter Verdacht gestellt und die Behauptung eines nach üblichen Maßstäben unwahrscheinlichen Vorgangs – etwa Jesu Ankündigung der Tempelzerstörung – als Ergebnis von Manipulationen betrachtet.

Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts blieb die Kenntnis dieses Verfahrens der Bibelinterpretation auf einen relativ kleinen Kreis beschränkt. Es handelte sich um das Herrschaftswissen der theologisch Gebildeten, deren Wirkung nicht über die Universitäten hinausreichte oder die ihren Gemeinden, in denen sie als Geistliche arbeiteten, die bessere Einsicht bewußt vorenthielten. Dabei spielte die Wahrung der Amtsautorität eine Rolle, aber manchmal auch berechtigte Sorge um den Fortbestand der „Volkskirche“. Nur wenige glaubten, in einer Art Vorwärtsverteidigung die Gläubigen mit Einsichten konfrontieren zu müssen, die sicher die Grundlagen des Glaubens erschütterten.

Mit solcher Zurückhaltung ist es nun vorbei, was auch damit zu tun hat, daß die Moderne keine Arkana zuläßt. Die Stellungnahme des eingangs erwähnten Burkhard Müller ist in vieler Hinsicht typisch, denn die evangelische und – in gewissem Maß – die katholische Kirche hat eine Schicht von Amtsträgern gebildet, die das, was sie zu vertreten hat – etwa die Lehre von der Dreifaltigkeit, der Gottessohnschaft Christi, der Auferstehung –, nicht vertritt oder so umdeutet, daß keiner das Eigentliche der christlichen Botschaft hinter all den Verklausulierungen erkennen kann.

Die Aussage des Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Nikolaus Schneider, der auf Befragen seine Übereinstimmung mit Müller bekundete, kann das illustrieren. In einem Interview mit dem evangelischen Magazin Chrismon plus Rheinland sagte Schneider, Gott brauche kein Sühnopfer, „denn es muß ja nicht sein Zorn durch unschuldiges Leiden besänftigt werden“. Vielmehr brauchen die Menschen die Botschaft vom Kreuz „als Zeichen für Gottes Liebe und Solidarität, als Symbol für das Mitgehen Gottes mit uns durch den Tod hindurch“.

Der Bonner Theologieprofessor Ulrich Eibach bezeichnete diese Äußerungen des Präses als „eigenartig unklar“. Schneider verteidige mit seinen Antworten Häresien (Irrlehren). In einer Stellungnahme vom 25. März schreibt Eibach: „Dies bedeutet im Grunde, daß die Heilige Schrift beliebig auslegbar ist und nicht zuletzt, daß sich die Evangelische Kirche im Rheinland mit einem derart weit gespannten Pluralismus fast jeder Lehrkompetenz begibt.“

Nach einem Bericht des evangelischen Nachrichtenmagazins idea-spektrum kritisierte Eibach zudem, daß Schneider den Tod Jesu Christi „fast ganz auf die Dimension des Mitleidens und der Solidarität mit den leidenden und sterbenden Menschen“ einschränke. Zwar betone der Präses auf der einen Seite, daß Jesus „meine Schuld mitgetragen hat“, andererseits sage er, daß Jesus „nicht im Sinne einer stellvertretenden Übernahme von Strafe gestorben ist“. Mit dieser Ablehnung des Stellvertretungsgedankens leugne er im Grunde die Heilsbedeutung des Todes Jesu.

Tatsächlich klingen die Äußerungen Schneiders nicht nur verschwiemelt, sie gehen auch am Kern der Sache vorbei, denn die Bedeutsamkeit des Kreuzestodes Christi setzt dessen Gottessohnschaft voraus, sonst hat es sich um einen Justizmord oder ein Martyrium gehandelt, ein Schicksal, das sich von dem anderer unschuldig Getöteter nicht unterscheidet, jedenfalls kein Heil verbürgt. Gibt man das nicht zu, bleibt doch die Frage, was der Zweck eines göttlichen Plans war, der die Kirche zweitausend Jahre lang mit ihrer Lehre im Dunkel ließ. Muß man annehmen, daß die Evangelien eine ganz unsichere Basis bilden und die Theologie des Kreuzes von Paulus bis Luther ein Fehler war, weil sie das stellvertretende Leiden, Sterben und Auferstehen Christi ins Zentrum rückte? Dann allerdings hat Burkhard Müller noch zu wenig gesagt, dann sollte man den großen Mißgriff zugestehen und sich nicht länger in irgendwelche undeutlichen, aber die Pensionszahlung verbürgenden Sprachspiele flüchten.

Soweit wird es kaum kommen, und noch gibt es Hoffnung. Denn der Rückgriff auf die Fundamente des Glaubens ist jedem möglich. Die Internetdebatte um Müllers Äußerungen zeigt, daß sich wenigstens in dem Zusammenhang einmal günstig auswirkt, wie wenig Zensur es in den virtuellen Welten gibt. Da kann man alles mögliche zur Geltung bringen: sogar das „Skandalon“ des Kreuzes und danach die unglaubliche Botschaft von der Auferstehung.

 

Dr. Karlheinz Weißmann, Historiker, ist Gymnasiallehrer für Ev. Religion und Geschichte.

Foto: Mathis Gothart Grünewald, Kreuzigung Christi (Detailansicht), Mittelbild des Isenheimer Altars, ehemals Hauptaltar des Antoniterklosters in Isenheim/Elsaß: „Nur ein Gedanke unter vielen“

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