© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/09 17. April 2009

Der letzte Todesschuß fiel am 21. August
Der Anfang vom Ende: An der ungarisch-österreichischen Grenze wurde im Sommer 1989 der Eiserne Vorhang zunehmend löchriger
Jörg Fischer

Am 9. November wird die Mauer in Berlin noch einmal fallen: Zum 20. Jubiläum sollen tausend zweieinhalb Meter hohe Dominosteine zwischen Potsdamer Platz und Reichstag umkippen. Die zwei Kilometer lange Strecke markiert den einstigen Mauerverlauf. Diese Aktion ist eine von vielen – und Berlin hat dabei zu Recht eine hohe Symbolkraft.

Die Bilder von dem denkwürdigen Donnerstagabend 1989 und den folgenden Tagen haben sich nicht nur ins Bewußtsein der Deutschen eingeprägt – doch den „ersten Riß in der Mauer“ (so der Titel des Buchs des Zeithistorikers Andreas Oplatka) gab es bereits knapp sieben Monate zuvor und 700 Kilometer weiter südöstlich: Nahe dem Grenzort Ragendorf (Rajka) im Drei-Länder-Eck Österreich–Slowakei–Ungarn kam es bereits am 18. April 1989 zu einem ersten Probeabbruch des „Eisernen Vorhangs“.

Dabei wurden die Maschinen zum Abbau der mehrstufigen Grenzsperranlagen getestet, wie der damalige stellvertretende Kommandeur des Grenzschutzes, General Balázs Nováky, bestätigt. Auch wenn die Wahl des Ortes wohl rein technische Gründe hatte – den Namen „Rajka“ kannten all jene DDR-Bürger, die per Pkw oder mit dem D-Zug 377 „Meridian“ nach Ungarn reisten, von dem Stempel in ihrer „Reiseanlage für den visafreien Reiseverkehr“. Bei der Fahrt zum Bahnhof Rajka konnte man die Sperranlagen nach Österreich sehen.

Am Morgen des 2. Mai begann dann in aller Öffentlichkeit der Abbruch an den vier Grenzabschnitten Richtung Österreich – weshalb in den meisten Geschichtsbüchern dies als Beginn des Abbaus des „Eisernen Vorhangs“ gilt, der von der Ostsee bis an Schwarze Meer Europa teilte. Die störanfälligen elektrischen Meldeanlagen sowjetischer Produktion wurden damals endgültig abgeschaltet – für ungarische Bürger hatte die Grenze seit den achtziger Jahren ohnehin immer weniger Bedeutung. Seit 1988 hatten sie Anspruch auf einen Reisepaß – gültig für alle Länder. Großzügige Reiseregelungen gab es sogar schon seit den siebziger Jahren. Die inkonvertible Landeswährung Forint setzte der ungarischen Reisefreude jedoch enge Grenzen. An jenem Dienstag im Mai 1989 gab auch General Nováky seine historische Pressekonferenz in der Grenzgemeinde Straßsommerein (Hegyeshalom) – und über die „Westsender“ erfuhren die Deutschen in der DDR am gleichen Abend von den Geschehnissen in Ungarn. Während ARD und ZDF eher beiläufig berichteten, erfaßte der Berliner RIAS („Rundfunk im amerikanischen Sektor“) die ganze Tragweite der Ereignisse: „In seiner jetzigen Form hat der eisern-elektronische Vorhang in Ungarn 22 Jahre existiert. Das Loch, das ab heute in die Grenzsperren geschlagen wird, regt die Phantasie an“, kommentierte im „Spätreport“ RIAS-Redakteur Thomas Gerlach. „Vielleicht fällt der Eiserne Vorhang ja einmal in seiner ganzen Länge zwischen Ostsee und Donau. Seit heute jedenfalls ist das geteilte Europa an einer kleinen Nahtstelle etwas näher aneinander gerückt.“

Tausende DDR-Bürger machen sich daraufhin als „Touristen“ auf den Weg nach Ungarn. Vielen Mutigen gelingt auf eigene Faust die Flucht nach Österreich oder Jugoslawien – einige wurden jedoch durch ungarische Grenzer gestellt und noch bis Juni (entsprechend einem bilateralen Abkommen) an die DDR-Staatssicherheit ausgeliefert. Andere wenden sich zunächst an die bundesdeutsche Botschaft in Budapest, die im August dann wegen Überfüllung geschlossen wird. Wer keine Reiseerlaubnis erhält, steuert die Prager und Warschauer Botschaft oder die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin an.

Am 16. Juni 1989 wurden dann die sterblichen Überreste des früheren ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy und seiner Mitstreiter – nach einem feierlichen Staatsakt auf dem Budapester Heldenplatz (Hősök tere) – beigesetzt. Nagy war 31 Jahre zuvor wegen seiner Rolle beim Volksaufstand 1956 hingerichtet und heimlich verscharrt worden. In den Augen der „Beton-Kommunisten“ im sowjetischen Machtbereich war das eigentlich Affront genug – doch dies wurde noch getoppt von der Ansprache des jungen Oppositionellen Viktor Orbán (von 1998 bis 2002 dann Ministerpräsident von Ungarn), der dabei öffentlich freie Wahlen und einen Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen forderte. In einer solch freien Atmosphäre überraschte es nicht, daß am 27. Juni die Außenminister Alois Mock (Österreich) und Gyula Horn (Ungarn) bei Kroisbach (Fertőrákos) den „Eisernen Vorhang“ demonstrativ vor den Augen der Weltpresse zerschnitten – was den Flüchtlingsstrom nochmals verstärkt.

In einem Detail griff aber der RIAS, der sich dabei auf die Nováky-Pressekonferenz vom 2. Mai berief, der Grenzpraxis voraus: „Es bestünde kein Schießbefehl“, verkündete Gerlach über den Äther – doch leider gab es noch kein ausdrückliches „Schießverbot“ für die ungarischen Wehrpflichtigen.

Ein solches existierte hingegen informell seit April 1989 auf Anordnung von SED-Generalsekretär Erich Honecker für die DDR-Grenztruppen. Es gelte zu beachten: „Lieber einen Menschen abhauen lassen, als in der jetzigen politischen Situation die Schußwaffe anzuwenden“, teilte der Chef des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee, Generaloberst Fritz Streletz, am 3. April in einer Besprechung mit den obersten Grenztruppenführern mit. Anlaß war aber kein Sinneswandel der DDR-Führung, sondern der „bevorstehende mögliche Besuch des französischen Präsidenten in der DDR“ sowie „mögliche Reaktionen sowjetischer Genossen“.

In Ungarn wurde nach dem berühmten Paneuropäischen Grenz-Picknick vom 19. August (bei dem Hunderten DDR-Bürgern nahe Ödenburg/Sopron die Flucht gelang) die infanteristische Grenzüberwachung sogar kurzzeitig wieder verschärft. Das wurde einer Familie aus Weimar, die nahe der westungarischen Stadt Güns (Kőszeg) „abhauen“ wollte, am Abend des 21. August zum tödlichen Verhängnis. „Nachdem einer der beiden Grenzwächter Warnschüsse abgegeben und eine Leuchtrakete abgefeuert hatte, kam es zwischen ihm und dem deutschen Mann zu einem Handgemenge. Dabei löste sich ein Schuß aus der entsicherten Maschinenpistole“, schreibt Oplatka in seinem Buch unter Berufung auf einen offiziellen Bericht des Kommandeurs des ungarischen Grenzschutzes, General János Székely, an das Budapester Außenministerium.

„Das Projektil traf den Flüchtling, den 1953 geborenen Kurt-Werner Schulz, am Kopf.“ Daher ist nicht der Berliner Chris Gueffroy (der in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1989 bei der Flucht von Treptow nach Neukölln von DDR-Grenzsoldaten hinterrücks erschossen wurde) der letzte „Mauertote“, sondern eigentlich der Architekt Kurt-Werner Schulz. Seine Lebensgefährtin Gundula Schafitel und der sechsjährige Sohn Johannes hatten zumindest Glück im Unglück: Nach der Untersuchung des Vorfalls (unter Beteiligung österreichischer Behörden) durften beide unbehelligt nach Westdeutschland ausreisen.

Der letzte Todesschuß blieb zudem nicht geheim – und im Rückblick gesehen beschleunigte dieser so tragische Zwischenfall die Ereignisse noch. Doch zunächst füllten sich die Auffanglager für DDR-Bürger erst einmal wieder, denn vielen schien eine Flucht über die grüne Grenze nun wieder zu gefährlich. Das bekannteste dieser Lager wurde am 14. August im Garten der Pfarrei St. Familia in Budapest-Zugliget vom ungarischen Malteser Hilfsdienst eingerichtet.

Pater Kozma und Malteser-Chefin Csilla Freifrau von Boeselager sowie viele freiwillige ungarische Helfer kümmerten sich rührend um die Gäste auf Zeit – darunter viele Familien mit kleinen Kindern. Aus Anlaß des 15. Jahrestags der Errichtung des Budapester Flüchtlingslagers für ausreisewillige DDR-Bürger wurde hier ein Denkmal errichtet – allerdings ohne das Beisein bundesdeutscher Politprominenz (JF 46/04). Andere DDR-Bürger (darunter etwa die jetzige Tagesschau-Sprecherin Susanne Daubner), die sich nicht von den Fluten des Grenzflusses Drau (Dráva) abschrecken ließen, wählten den sicherer scheinenden Umweg über Jugoslawien.

Am 10. September – nach Geheimverhandlungen zwischen dem ungarischen Premier Miklós Neméth und Kanzler Helmut Kohl – war es dann soweit: Außenminister Horn verkündete in den 19-Uhr-Nachrichten des ungarischen Fernsehens, daß sich die Regierung dazu entschlossen habe, die Westgrenze für alle DDR-Bürger zu öffnen. Damit war der erste Dominostein gefallen – aus dem Riß vom 18. April war ein riesiges Loch für Zehntausende Deutsche aus der DDR geworden. Sie konnten per Auto, Bus, Bahn, Flugzeug oder zu Fuß in den Westen. Die folgenden Ereignisse – die Züge mit den Botschaftsflüchtlingen aus Prag, die Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober und die tschechische Grenzöffnung am 4. November – waren dann weitere Dominosteine bis zum Fall der Berliner Mauer.

 

Stichwort: Paneuropäisches Picknick: Am 19. August 1989 sorgte das Paneuropäische Picknick der Paneuropa-Union an der österreichisch-ungarischen Grenze nicht nur für Schlagzeilen, sondern auch für Wut bei der SED-Führung, denn es ermöglichte 661 Deutschen aus der DDR die Flucht. Ungarns Staatsminister Imre Poszgay und Paneuropa-Chef Otto von Habsburg hatten die Schirmherrschaft über das „Picknick“ übernommen, bei dem an mehreren Stellen der Stacheldraht durchtrennt wurde. Die ungarischen Grenzer standen tatenlos dabei. Informationen im Internet unter www.paneuropa.at

Foto: Grenzbeamte öffnen ein seit 1957 verschlossenes Grenztor zu Ungarn (19. August 1989): Beim Paneuropa-Picknick gelang 661 DDR-Bürgern eine spektakuläre Flucht

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