© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/09 17. April 2009

Ungarn machte den ersten Schritt
Andreas Oplatka beschreibt die politische Vorgeschichte zum Fall des Eisernen Vorhangs
Richard Hausner

Nicht nur aus wirtschaftlichen und politischen, sondern vor allem aus ganz praktischen Gründen hatten Stimmung und Motivation bei den Grenztruppen an der ungarischen Westgrenze in den achtziger Jahren einen Tiefpunkt erreicht. Das veraltete und störanfällige elektrische Signalsystem sowjetischer Produktion löste mehrere tausend Mal pro Jahr einen blinden Alarm aus.

In der Regel waren die Verursacher nicht Menschen aus der DDR oder einem anderen Ostblock-Staat, die ihren touristischen Aufenthalt zur Westflucht nutzen wollten, sondern Windstöße, Feldhasen oder Vögel. Das war um so ärgerlicher, weil ein ausgelöstes Signal etwa hundert Grenzsoldaten mit zahlreichen Fahrzeugen alarmierte. Eine Modernisierung dieses Systems wäre überfällig gewesen, doch deren Nutzen schien angesichts der relativ freien politischen Atmosphäre in der „lustigsten Baracke im sozialistischen Lager“ – so ein Bonmot der damaligen Zeit – in keinem Verhältnis zum hohen finanziellen Aufwand zu stehen.

Seit vielen Jahren konnten die Ungarn in den Westen reisen, seit 1988 hatten sie sogar den offiziellen Anspruch auf einen Reisepaß für alle Länder. Längst gab es im Gegensatz etwa zur DDR keine nennenswerten Fluchtbewegungen der eigenen Staatsangehörigen mehr. 1988 gingen über 98 Prozent der illegalen Grenzüberquerungen auf das Konto von Ausländern. Der damalige sozialistische Ministerpräsident Miklós Németh vertrat die Auffassung, das System habe lediglich die Funktion, Rumänen und Mitteldeutsche an der Flucht zu hindern. Weil es also kein ungarisches Interesse mehr an der strengen Bewachung gab und auch eine Einmischung der Sowjetunion als unwahrscheinlich galt, begannen im Frühjahr 1989 die umfassenden Arbeiten zum Abbau des Eisernen Vorhangs. Dies war der erste Schritt hin zur Grenzöffnung am 11. September, welche dann die bekannten Rückwirkungen auf ganz Europa hatte.

„Der erste Riß in der Mauer“, so lautet der treffende Titel der neuen wissenschaftlichen Abhandlung von Andreas Oplatka, der die ganze politisch-diplomatische Vorgeschichte detailliert rekonstruiert – und zwar aus ungarischer  Sicht. Der in Budapest geborene Autor erlebte als 14jähriger mit seinem älteren Bruder den ungarischen Volksaufstand. Nach dessen Niederlage emigrierte die Familie Ende 1956 in die Schweiz. Nach einem Studium der Germanistik und Geschichte in Zürich und Wien war Oplatka von 1968 bis 2004 außenpolitischer Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung und in Stockholm, Paris, Moskau und Budapest tätig (siehe das Interview auf Seite 3).

Dank persönlicher Kontakte mit den ungarischen Reformpolitikern ist er ein Kenner der Wendezeit. Diese Verbindungen waren es auch, die ihm Zugang zu den damaligen Entscheidungsträgern ermöglichten – nicht zuletzt Michail Gorbatschow, Hans-Dietrich Genscher und Németh. Insgesamt führte Oplatka etwa siebzig Interviews mit Personen, die an der Grenzöffnung beteiligt waren. Altkanzler Helmut Kohl ließ sich leider nicht zu einem Gespräch überreden.

Die Aussagen der damaligen Akteure sind deshalb so wertvoll, weil die entsprechenden Dokumente größtenteils noch einer Sperrfrist unterliegen. Allerdings sind sie, wie Oplatka anmerkt, auch mit Vorsicht zu genießen: „Die Grenzöffnung gilt in Ungarn als eine Erfolgsgeschichte, und der Erfolg hat bekanntlich viele Väter. Tatsächlich wird die Vaterschaft im vorliegenden Fall von nicht wenigen beansprucht.“ Insbesondere die Rolle des damaligen Außenministers Gyula Horn, der sich mittels spektakulärer Fernsehauftritte in den Vordergrund drängelte, werde im Westen überschätzt. Für Oplatka ist der Hauptakteur der Grenzöffnung eindeutig Németh.

Dessen Mutter war eine Donauschwäbin, welche 1944 der Deportation in die Sowjetunion mit viel Glück entging. Der ungarndeutsche Großvater hingegen kam erst 1951 aus der Sowjet­union zurück. Auch der Vater des Ministerpräsidenten paßte nicht so recht in das kommunistische Klischee. Als überzeugter Katholik lehnte er das Regime ab. Er war bitter enttäuscht, als er vom Parteieintritt seines Sohnes – 1968 als Student der Budapester Universität für Wirtschaftswissenschaften – erfuhr, und weigerte sich sechs Monate lang, mit ihm zu sprechen. Der Junior indessen machte als Pragmatiker Karriere, ohne allerdings die antikommunistische Haltung seiner bäuerlich-katholischen Vorfahren zu vergessen.

In den siebziger Jahren verbrachte Németh zehn Monate in den USA an der Harvard University, wo er von Professor Howard Raiffa, einem Spezialisten für Fragen der Entscheidungsfindung und Risikoabwägung unter unsicheren Bedingungen, über einen Komplex unterrichtet wurde, der für ihn in der Umbruchzeit sehr wichtig werden sollte. Nach eigenen Aussagen hatte Németh sein Schlüsselerlebnis im Hinblick auf die Grenzöffnung am 7. August 1989, als er nach seinem zweiwöchigen Urlaub am Abend seines ersten Arbeitstags Freunde in der Nähe des bundesdeutschen Konsulats besuchte. Der Regierungschef war offenbar sehr betroffen vom Anblick der zahlreichen Mitteldeutschen, die in dichten Reihen mit ihren Schlafsäcken auf den Bürgersteigen übernachteten und fest entschlossen waren, nicht mehr in die DDR zurückzukehren.

Das Buch verschweigt aber auch die dunklen Fußnoten dieser Tage nicht: zum Beispiel den tödlichen Zwischenfall am 21. August, als der 36jährige Weimarer Architekt Kurt-Werner Schulz vor den Augen seiner Lebensgefährtin und seines sechsjährigen Sohns bei einem Handgemenge mit einem Grenzsoldaten erschossen wurde. Insgesamt verschafft die Untersuchung, die mit einem üppigen Anmerkungsapparat und einem Literaturverzeichnis ausgestattet ist, einen hervorragenden Einblick in die dramatischen Ereignisse der Wendezeit. Zugleich macht Oplatka deutlich, mit welcher Wucht die damaligen Entscheidungsträger von den Realitäten regelrecht überrannt wurden.

Andreas Oplatka: Der erste Riß in der Mauer. September 1989 – Ungarn öffnet die Grenze. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2009, gebunden, 304 Seiten, 21,50 Euro

Foto: DDR-Bürger mit bundesdeutschem Paß passiert 1989 die ungarisch-österreichische Grenze: Kein Interesse an strenger Bewachung mehr

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