© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/09 24. April 2009

Was bleibt, ist Helgoland
Vor 125 Jahren stellte das Deutsche Reich erste koloniale Gebiete unter seinen Schutz und behauptete bis 1918 eine imperiale Rolle
Matthias Bäkermann

Am 1. Mai 1883 erwarb ein Beauftragter des Bremer Kaufmanns Lüderitz, der sich vorher über die Stellung der Reichsregierung vergewissert hatte, von dem Häuptling Joseph Fredericks den Hafenplatz Angra Pequena nebst den angrenzenden Ländereien. Da die Engländer Miene machten, die Oberhoheit für das fragliche Gebiet für sich in Anspruch zu nehmen, so wurde dasselbe am 24. April 1884 vom Fürsten Bismarck unter deutschen Schutz gestellt.“ Tatsächlich hat sich Deutschlands Eintritt in das Konzert der imperialen Mächte nicht viel spektakulärer vollzogen, als es August Seidel 1901 in dem weitverbreiteten „Kolonialen Lesebuch für Schule und Haus“ beschrieb. Schon innerhalb einer Jahresfrist nach diesem schnöden Rechtsakt sollte das Deutsche Reich den Grundstock für ein Kolonialreich gelegt haben, das von Togo, Kamerun, Ostafrika bis nach Papua-Neuguinea reichte und in den Ausmaßen nur noch von den überseeischen Besitzungen Frankreichs und natürlich Englands übertroffen wurde.

Ein lange ausgetüfteltes außenpolitisches Konzept lag dem kolonialen Aufbruch nicht zugrunde. Reichskanzler Bismarck witterte allerdings in der Stunde, da die „alten“ Kolonialmächte von ihren Stützpunkten an den Küsten zum „Wettlauf nach Afrika“ aufbrachen, daß das materielle Interesse deutscher Kaufleute wie Adolf Lüderitz, der Ehrgeiz eines Carl Peters oder Gustav Nachtigal ein nützliches Vehikel sein könnte, ebenfalls Claims auf dem „Schwarzen Kontinent“ abzustecken, und sei es nur als Faustpfand für künftige Geplänkel auf dem diplomatischen Parkett. Genau diese Politik offenbarte der Eiserne Kanzler – weder imperialer Träumer noch kolonialer Visionär – dann bereits ein halbes Jahr später auf der in Berlin tagenden internationalen „Kongokonferenz“, bei der unter Regie des „ehrlichen Maklers“ die Landkarte Afrikas gezeichnet wurde, deren willkürliche Grenzziehung vielfach bis heute Bestand hat.

Der Ort, die karge Bucht von Angra Pequena, wo der Bremer Tabakkaufmann 1883 seinen Stützpunkt gründete (noch heute heißt das Städtchen Lüderitzbucht), war die einzige Stelle an der afrikanischen Atlantikküste südlich des Äquators, an der man überhaupt noch einen herrenlosen Naturhafen fand. Bereits 1878 hatten die Briten die 300 Kilometer nördlich liegende Walfischbucht in Besitz genommen, Angola war seit dem 16. Jahrhundert portugiesische Kolonie. Auch in Angra Pequena hatte bereits 1487 der portugiesische Seefahrer Bartholomäus Diaz auf der Suche nach dem Seeweg Richtung Indien haltgemacht und aus Dankbarkeit, daß er nach Tausenden Kilometern unwirtlicher und wasserloser Küste eine schützende Bucht finden konnte, ein Steinkreuz errichtet. Diaz hatte jedoch keinen Grund finden können, hier angesichts der glutheißen Namibwüste im Hinterland einen Posten zu stationieren.

Dennoch sollten Deutschlands koloniale Erwerbungen keinesfalls nur unattraktive Regionen der Welt umfassen, die andere Kolonialmächte links liegenließen. Insbesondere das Ende 1884 erworbene Deutsch-Ostafrika, welches vormals den Arabern als Handels- und Sklavenniederlassung diente, zog die Begehrlichkeiten Londons auf sich, um als fruchtbare Brücke den Ausbau der afroimperialen Achse Kap–Kairo zu vollenden. Hatten die anderen „Schutzgebiete“ auch nicht den Glanz Indiens, des „strahlendsten Edelsteins in der Krone“ des Britischen Empire, so standen Kamerun, Togo oder die Inseln Mikronesiens kaum hinter Kolonien wie Guinea, Somaliland oder Senegal zurück.

Als Rohstofflieferant, Siedlungsgebiet, Absatzmarkt heimischer Industrieproduktion oder Sicherung der Schiffahrtslinien erfüllten die deutschen Kolonien allerdings kaum ihren Zweck. Auch nach 1885 zog es deutsche Auswanderer vorwiegend nach Amerika, das neben Europa auch den Absatzmarkt für viele Exporte der aufstrebenden Industrienation bildete. Demzufolge nutzten den wichtigen transatlantischen Schiffahrtslinien Stützpunkte an Afrikas Küste ebensowenig wie jener auf Samoa, wo 1898 die kaiserliche Flagge gehißt wurde. Insgesamt fiel die wirtschaftliche Bilanz bis 1914 negativ aus. Die Zuschüsse des Deutschen Reichs von 646 Millionen Mark für die koloniale Infrastrukturentwicklung und der langwierige landwirtschaftliche Aufbau standen in keinem Verhältnis zum Ertrag. So begann zum Beispiel erst 1907 die Ausfuhr von Kautschuk, neben Kakao wichtigstes Exportgut Kameruns. Erste nennenswerte Sisal-Ladungen verließen Daressalam erst 15 Jahren nach Gründung Deutsch-Ostafrikas. Auch die profitablen Gewinne aus dem Diamantenabbau in Deutsch-Südwest oder der Phosphatabbau auf Nauru im Westpazifik flossen erst ab 1908. Selbst als außenpolitische Manövriermasse wurden die Kolonien nach 1890 kaum noch benutzt. Allein Helgolands rote Felsen, die im Tausch mit Sansibar zu Deutschland kamen, künden noch von diesem Bismarckschen Konzept.

Was blieb, war also Prestigesucht und damit das Wort des Reichskanzlers Bernhard von Bülow in der Reichtagsdebatte am 6. Dezember 1897: „Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Um als gleichrangiger „Träger der Zivilisation“ wie andere  europäische Mächte zu gelten, einem insbesondere bürgerlichen Zeitgeist zu folgen, bei dem der Kolonialismus gleichermaßen als Ventil eines fortschrittlichen Geltungsbedürfnisses und der Sehnsucht nach fremdländischer Exotik fungierte, waren alle Anstrengungen gerechtfertigt. Am deutlichsten offenbarte sich diese Politik bei der deutschen „Besitzergreifung“ der chinesischen Region Kiautschou mit der Hafenstadt Tschingtau 1898.

In diesem Geiste dürfte die Antwortnote der Alliierten auf Proteste der deutschen Delegation gegen die Wegnahme der Kolonien vom 16. Juni 1919 ihre kränkende Absicht kaum verfehlt haben: „Deutschlands Versagen auf dem Gebiete der kolonialen Zivilisation ist deutlich klargestellt worden.“ Daß ausgerechnet rücksichtlose Imperialisten aus England, Frankreich, Italien und besonders Belgien „in allererster Linie die Interessen der eingeborenen Bevölkerung“ gegenüber blutiger deutscher Unterdrückung geltend machten, die man anhand der Kolonialkriege gegen Herero und Nama nachwies, dürfte als ein weiterer historischer Beleg für die Doppelmoral und Perfidie des Versailler Vertrags dienen.

Fotos:  Kolonialwandbild Togo um 1906, deutsche Schutztruppensoldaten mit Askari in Deutsch-Ostafrika, Reiterstandbild in Windhuk, Deutsch-Südwest: Wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne, Deutsches Kolonialreich: Keinesfalls nur unattraktive Regionen

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