© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/09 01. Mai 2009

Der kalte Putsch
Vertrag von Lissabon: Karlsruhe entscheidet über die Selbstentmachtung des Parlaments
Michael Paulwitz

Warten auf Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht ist die letzte Instanz, die der Aushebelung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland durch den EU-Vertrag von Lissabon noch einen Riegel vorschieben könnte. Außer einer kleinen Schar prominenter Kläger scheint das kaum jemanden sonderlich zu berühren. Die Bundesregierung betreibt die Selbstentmachtung der deutschen Demokratie, doch im politischen Berlin herrscht das Schweigen der Lämmer.

Der publizistische Kampf, der die Verfassungsbeschwerden zweier Klägergruppen um die CSU-Politiker Peter Gauweiler und Franz Graf Stauffenberg begleitet, wird deutlicher und schärfer, je näher der Tag der Entscheidung rückt. Lissabon entmachtet das Grundgesetz und degradiert es zur nachrangigen „Landesverfassung“, alarmiert Gauweilers Prozeßvertreter Dietrich Murswiek in einer Analyse für die Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ Heft 8, April 2009).

Der Freiburger Professor für Öffentliches Recht spricht Klartext: In Lissabon steckt Sprengstoff, weil der Europäische Gerichtshof (EuGH) künftig für den gesamten Unionsvertrag zuständig sein soll. Bislang wacht er nur über die in den EG-Verträgen vergemeinschafteten Politikbereiche – und versteht sich dabei schon heute mit einseitigen und gewagten Auslegungen als williger Vollstrecker der Kompetenzanmaßungen der EU-Kommission gegenüber den Nationalstaaten. Der Lissabon-Vertrag erhebt den Mißbrauch zur Norm.

Die „Werteklausel“ in Artikel 2 des Vertrags bietet dafür einen Blankoscheck. Aus Allgemeinheiten wie Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität, Nichtdiskriminierung könnten die Luxemburger Richter jederzeit die Vollmacht ableiten, sich direkt in die Verfassungs- und Werteordnungen der Mitgliedstaaten einzumischen, warnt der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof.

Was das konkret bedeutet? Zum Beispiel, daß „künftig jedes Amtsgericht ein deutsches Gesetz unangewendet lassen kann und muß, wenn es meint, es sei mit einem der EU-Grundwerte unvereinbar“, wie Murswiek ausführt. Ob Parteiverbot, Zuwanderungsbegrenzung oder Kopftuchverbot, Embryonenforschung oder Sterbehilfe – was Bundestag und Bundesverfassungsgericht entschieden haben oder noch entscheiden werden, steht mit Lissabon künftig unter europäischem Vorbehalt. Kommission und EuGH könnten direkt in die Innen- und Sozialpolitik der Mitgliedstaaten eingreifen und „Entscheidungen treffen, für die eigentlich die nationalen Parlamente zuständig sind“. Mit anderen Worten: eine Art „Ermächtigungsgesetz“.

Neu sind diese Warnungen allerdings nicht; der tschechische Präsident Václav Klaus hat in seiner Abrechnung mit Lissabon ähnliches vorgetragen. Man mußte den – gewollt unübersichtlichen – Vertrag nur lesen, um darauf zu kommen. Das Gros der Bundestagsabgeordneten, die sich durch ihre Zustimmung selbst entmündigt haben, hat dies offenbar nicht getan und den Verdacht erhärtet, daß sie in der großen Mehrzahl als kontrollierende Gewalt versagt haben. Daß auch Kanzlerin und Bundesregierung die von Murswiek höflich „Konstruktionsfehler“ genannte Falle „übersehen“ und ebenso wie ihre europäischen Verhandlungspartner diese „Nebenwirkung“ nicht beabsichtigt und bedacht haben sollen, unterstellt einen Grad von Naivität, den man der politischen Führung und den ihnen zu Gebote stehenden Apparaten kaum abnehmen mag. Wäre es Vorsatz, täte sich ein Abgrund an Hochverrat auf.

Das nationalmasochistische Begehren, die eigene, vermeintlich belastete Staatlichkeit und nationale Identität im europäischen Tiegel aufgehen zu lassen, ist ein Motiv, aber nicht die ganze Wahrheit. Zwar war Merkel die treibende Kraft bei dem Manöver, den europäischen Völkern den am Votum der Niederländer und Franzosen gescheiterten „Verfassungsvertrag“ als Lissabonner Mogelpackung noch einmal unterzuschieben. Doch die übrigen Staats- und Regierungschefs haben gerne mitgemacht. Und auch das Mißtrauen gegenüber dem eigenen Volk ist keine deutsche Spezialität; in den Ratsrunden war man sich einig, Volksabstimmungen am besten gar nicht erst zuzulassen, damit die unbelehrbaren Wähler den fein ersonnenen Plan nur ja nicht durchkreuzen können.

Schließlich ist es ja vor allem das Volk, das entmachtet wird, wenn das demokratische Grundprinzip der Legitimation und Kontrolle der Staatsgewalt durch die Bürger ausgehöhlt wird. Wer an den Schalthebeln der Macht sitzt, mag es lästiger finden, sich vor den Wählern zu rechtfertigen, als im Namen Brüssels Vorgaben und Richtlinien umzusetzen, die er selbst in geschlossener Gesellschaft mit ausgekungelt hat.

„Spiel über Bande“ nennt das der Alt-Bundespräsident und ehemalige Verfassungsrichter Roman Herzog: Unpopuläre Vorhaben, die in den Parlamenten womöglich keine Mehrheit finden, läßt man sich auf Bestellung als angeblich alternativlose EU-Richtlinie servieren. Der Bundestag darf dann nur noch durchwinken, wie jetzt schon bei mehr als vier Fünfteln aller Gesetzesakte.

Ein gefährlicher Spalt tut sich auf: Die politische Klasse richtet sich in einer neuen Form von vordemokratischer Kabinettspolitik ein, die ihren Bezugsrahmen bei ihresgleichen sucht und nicht bei der Zustimmung durch das Volk. Dieses wiederum läßt seine Obrigkeit begünstigend gewähren, weil es Politik, europäische zumal, mal als fern und langweilig, mal als abgehoben und lächerlich wahrnimmt, jedenfalls als die eigenen Belange nicht betreffend. Ein fataler Irrtum.

Nicht allein die Eurokraten sind es, die uns entmündigen, es sind die eigenen Politiker. Zieht das Bundesverfassungsgericht aus Selbsterhaltungstrieb die Notbremse, bevor es degradiert wird? Oder begnügt es sich unter politischem Druck mit einigen Vorbehalten wie bei der Maastricht-Entscheidung?                     

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