© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/09 01. Mai 2009

Gut organisierte Lobbyarbeit
Einwanderer und die Taktiken der Parteien: Die Kluft zwischen der geschickten SPD und der blauäugigen Union ist groß
Fabian Schmidt-Ahmad

Wenn im Herbst 62,2 Millionen Bürger zur Wahl des deutschen Bundestages aufgefordert sein werden, haben rund 700.000 von ihnen ihre Wurzeln in der Türkei: eine zwar rasant wachsende (bei der letzten Bundestagswahl war es noch rund eine halbe Million), jedoch mit ungefähr elf Prozent verhältnismäßig kleine Gruppe – klein zumindest im Vergleich zum politischen Einfluß türkischer Lobbyorganisationen in Deutschland. Nicht selten benutzen diese ihre hier lebenden Landsleute als „fünfte Kolonne“ zur Durchsetzung geostrategischer Interessen der Türkei.

Als beispielsweise im Wahlkampf zur letzten Bundestagswahl 2004 Teile von CDU und CSU eine Unterschriftenaktion gegen den EU-Beitritt der Türkei starten wollten, drohte der damalige Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), Hakki Keskin, öffentlich mit einem Boykottaufruf. Das Ergebnis ist bekannt: Die Aktion wurde abgeblasen, und CDU-Politiker wie der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus beeilten sich zu versichern, man wolle keine Ressentiments schüren. Genützt hat dies dem „Christenclub“ nichts: Nur rund 12 Prozent der Türken mit deutschem Paß wählten eine Unionspartei.

„Eher fault einem Muslim die Hand ab, als daß er CDU wählt.“ Der sächsische Bundestagsabgeordnete und damalige CDU-Politiker Henry Nitzsche hatte mit seiner im Vorfeld der Wahl geäußerten polemischen Spitze wohl nicht ganz unrecht. „Das ist eine Beleidigung aller türkischstämmigen Menschen“, wetterte daraufhin der Vorsitzende des Deutsch-Türkischen Forums (DTF) in der CDU, Bülent Arslan, und forderte Nitzsches Parteiausschluß. Nitzsche verließ später tatsächlich die CDU, während Arslan weiterhin Lobbypolitik betreibt.

Denn es dürfte bloßes Wunschdenken von CDU-Politikern bleiben, mit dem DTF eine „Allianz der Konservativen“ zu schmieden. Tatsächlich unterscheiden sich dessen „Integrations“-Ziele vom „Ausbau des zweisprachigen Bildungssystems“ bis hin zur „Stärkung des interreligiösen Dialogs“ kaum von dem, was andere türkische Lobbyorganisationen auch fordern. CDU und Schwesterpartei CSU dämmern derweil ihrem nächsten Debakel bei den türkischstämmigen Wählern entgegen. Lediglich zehn Prozent wollen den christlichen Volksparteien ihre Stimme geben, schätzt das private Meinungsforschungsinstitut Data 4 U.

Anders sieht es hier für die SPD aus, die in der Vergangenheit stets sichere Mehrheiten bekam. Auch für die nächste Wahl werden ihr gut 55 Prozent der Stimmen vorausgesagt. Schon bei der Bundestagswahl 2002 dürften wahlberechtigte Türken dem damaligen SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder den hauchdünnen Vorsprung gegenüber seinem CDU/CSU-Herausforderer Edmund Stoiber gesichert haben. Der Altkanzler bedankte sich auch jetzt artig und forderte für die neue Regierung nach der Wahl einen türkischstämmigen Minister: „Es sollte eine Sozialdemokratin oder ein Sozialdemokrat sein“, wünschte sich der erklärte Freund des türkischen Ministerpräsidenten Reccep Erdoğan im Magazin Cicero.

Es ist ein offenes Geheimnis, daß aus solchen parteitaktischen Gründen die SPD für die Integration von türkischen Einwanderern Maßnahmen wie Masseneinbürgerung oder doppelte Staatsbürgerschaft fordert. Dennoch erklärt dies nur zu einem Teil den hohen Einfluß türkischer Machtinteressen nicht bloß auf die Politik der SPD, sondern eigentlich aller etablierten Parteien. Die FDP versuchte mit Mehmet Daimaglür eine Bezugsperson für den türkischen Mittelstand zu schaffen. Inzwischen arbeitet der erfolgreiche Jurist für die Hamburger Conergy AG, und der Anteil der FDP-Wähler unter den Türkischstämmigen wird voraussichtlich unter einem Prozent liegen.

Obwohl also die türkische Wählerschaft für die FDP zu vernachlässigen ist, gibt es die Liberale Türkisch-Deutsche Vereinigung (LTD), die in ihren Positionspapieren einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union fordert: „Ohne die Integration der Türkei in die Europäische Union käme es zu einer Polarisierung mit den muslimischen Europäern und überhaupt denen, die sich nicht über die christliche Religion definieren“, heißt es hier wenig zurückhaltend. Damit wird der wirkungsvolle Mechanismus der erfolgreichen türkischen Lobbypolitik offensichtlich.

Als CDU und CSU sich anschickten, den türkischen EU-Beitritt zum Wahlkampfthema zu machen, griff der türkische Botschafter Mehmet Ali İrtemçelik vernehmlich in die deutsche Politik ein. Mit der geplanten Unterschriftenaktion, „die offensichtlich zu einer Kampagne gegen die Türkei gemacht und aufgeheizt werden soll“, könnten einige Schichten in der Gesellschaft an den Rand der Hysterie gebracht werden, sagte İrtemçelik gegenüber dem Handelsblatt. Dies könne katastrophale Auswirkungen für den gesellschaftlichen Frieden in einem Land zeitigen, wo 2,7 Millionen Türken leben. Die Unionsparteien hatten verstanden und ließen die Aktion im Sande verlaufen.

Selbstsichere Aussagen wie diese zeigen, wie selbstverständlich man inzwischen in der Türkei Mitteleuropa als Vorhof betrachtet. Auch in Ankara kennt man die demographische Entwicklung, weiß um die Unfähigkeit der deutschen Gesellschaft, Fremde zu integrieren. Man kennt die Anfälligkeit für Schuldgefühle – wer hört, wie Lobbyisten mustergültig ebendiese Befindlichkeiten bedienen, kann eine derartige Chuzpe im Dienst des türkischen Staats eigentlich nur bewundern.

Es hat etwas Tragikomisches, daß ausgerechnet die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in unzähligen Veröffentlichungen einen „Extremismus in der Mitte“ der deutschen Gesellschaft nachweisen möchte. Denn gerade durch ihre Politik beweist die SPD, daß es diesen Extremismus gar nicht gibt.

Man mag sich darüber streiten können, inwiefern eine Übertragung der ländlichen Lebensweise Anatoliens in unsere Städte eine „kulturelle Bereicherung“ darstellt – wirtschaftlich ist sie dies ganz sicher nicht. Schon seit mehr als zehn Jahren weisen Bevölkerungswissenschaftler wie Herwig Birg darauf hin, daß im deutschen Sozialversicherungssystem eine Umverteilung zugunsten der Einwanderer stattfindet.

Getragen wird dieser Vermögens­transfer vor allem von den deutschen Arbeitnehmern – also ausgerechnet der eigentlichen SPD-Wählerklientel. Wären die Deutschen also wirklich heimliche Extremisten, wie ihnen die diversen FES-Studien nachweisen möchten, hätte die SPD ihre Zugeständnisse an die türkischen Einwanderer gar nicht durchsetzen können.

Dieses Mißverhältnis zum Thema zu machen, war eine Zeitlang die Absicht von Linkspartei-Chef Oskar Lafontaine. Wenn der Saarländer – wie im letzten Bundestagswahlkampf – deutsche „Familienväter und Frauen“ davor schützen möchte, daß „Fremdarbeiter ihnen zu Billiglöhnen die Arbeitsplätze wegnehmen“, entspringen solche Aussagen  genau diesem Kalkül.

Doch die Rechnung ging bisher nicht auf. Zu widersprüchlich der Kurs, zu plump die Anbiederung, zu ungeklärt das Verhältnis zur DDR-Diktatur – dem deutschen Arbeitnehmer scheint die radikale Linke keine Alternative zu sein. Statt dessen dürfte er wohl eher zähneknirschend die SPD wählen oder seine Stimme gleich ganz verweigern – ein Ergebnis, mit dem die SPD arbeiten kann. Schwierigkeiten bereiten ihr dagegen die türkischen Wähler.

Triumphierend erklärte die türkischstämmige Grünen-Politikerin Bilkay Öney in ihrer Analyse der vorletzten Bundestagswahl: „Viele Türken, die in der Türkei mindestens die Konservativen, zum Beispiel die Partei des Rechten Weges (DYP), oder sogar die Nationalisten (MHP) wählen würden, wählten in Deutschland Rot-Grün.“

Was Öney dabei allerdings vergißt, ist der Umkehrschluß: Sollten sich Sozialdemokraten und Grüne eines Tages zu einer Politik gegen die deutsche Selbstaufgabe entschließen, würde ihnen mit Sicherheit von heute auf morgen jegliche Unterstützung entzogen. Denn inhaltlich verbindet Rot-Grün und jene Wähler eben nichts, wie Öney selbst beschreibt.

Dem türkischen Machtstreben stehen jedoch Einwanderergruppen entgegen, die aus persönlicher Erfahrung die zukünftige Entwicklung Deutschlands jenseits der Multikulti-Realität ahnen können – allen voran die Glaubensgemeinschaft der Aleviten (JF  9/08) sowie die Kurden.

Rund 800.000 Kurden soll es nach Angaben kurdischer Lobbyorganisationen in Deutschland geben. Diese Lobbyorganisationen haben sich die Beeinflussung der Linkspartei durchaus analog zu den „deutsch-türkischen Plattformen“ der anderen Parteien zum Ziel gesetzt. Dies hat zu dem kuriosen Ergebnis geführt, daß ausgerechnet die Partei, die – abgesehen von Lafontaines verbalen Einsprengseln – wohl als am deutschfeindlichsten gelten kann, derzeit der schärfste Kritiker eines türkischen EU-Beitritts ist.

Eine symbiotische Gemeinschaft – schließlich verhelfen wohl vor allem wahlberechtigte Kurden der Linkspartei im Westen zu Wahlerfolgen. „Kurden bieten uns eine große Chance“, sagt der Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Hüseyin Aydin, in der Frankfurter Rundschau. Genausogut hätte der Politiker kurdischer Abstammung seine Aussage umkehren können. Denn Linkspartei-Politiker wie Aydins Kollegin Ulla Jelpke kritisieren öffentlich Einsätze des türkischen Militärs gegen Kurden in Ostanatolien und sprechen offen und mit Sympathie von der marxistisch-leninistischen orientierten kurdischen Terrororganisation PKK.

Aber auch türkische Lobbyorganisationen haben die ehemalige sozialistische Einheitspartei nicht „links liegen“ lassen. Der ehemalige TGD-Sprecher Keskin sorgte vor zwei Jahren für Schlagzeilen, als er im Gespräch mit mehreren deutschen und türkischen Zeitungen den armenischen Völkermord wiederholt bestritt. Es gebe „keine Belege für einen Völkermord“, eine „geplante und gewollte Vernichtung der armenischen Bevölkerung“ sei nicht zu erkennen, sagte Keskin beispielsweise gegenüber Spiegel-Online und wiederholte damit die Position türkischer Nationalisten. Die Besonderheit lag darin, daß er zu diesem Zeitpunkt bereits Bundestagsabgeordneter der Linkspartei war.

 

Stichwort: Deutsch-Türkisches Forum (DTF)

Das 1997 von türkischstämmigen und CDU-Politikern (Jürgen Rüttgers, Karl Lamers, Norbert Blüm) gegründete DTF sieht sich als eine Plattform innerhalb der CDU, die die „Belange der türkischstämmigen Mitbürger in die CDU tragen und zum anderen die Politik der CDU der türkischstämmigen Bevölkerung näherbringen“ will. Sitz des Forums ist Düsseldorf, wo  unter der Regie von Bülent Arslan (Beisitzer im Landesvorstand der NRW-CDU) auch die Fäden zusammenlaufen. Weitere Informationen: www.dtf-online.de

Foto: Zweigleisiges Wahlplakat des türkischstämmigen Berliner Grünen-Politikers Özcan Mutlu: Wohin die Reise geht, ist oft nicht ersichtlich

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