© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/09 08. Mai 2009

Abrechnung mit den Politikern
Indien: Mehrwöchige Parlamentswahlen in der größten Demokratie der Welt / Finanzkrise verschärft wirtschaftliche und soziale Probleme
Erhard Haubold

Das Stereotyp ist abgegriffen, aber immer noch indische Realität. Vor der internationalen Finanzkrise gab es auf dem Subkontinent mehr Dollar-Milliardäre als in den USA (JF 31-32/07). In den Schaufenstern liegen Büchertitel wie „Indien – der nächste wirtschaftliche Gigant“. Die 1,1 Milliarden Einwohner zählende Vielvölkerrepublik hatte 2008 mit 256 Milliarden Dollar fast doppelt so hohe Devisenreserven wie die USA und die einstige Kolonialmacht Großbritannien zusammen.

Bei einer Fahrt über Land muß man hingegen oft mehr als fünf Stunden für 200 Kilometer ansetzen. Im Nachtzug von Kalkutta nach Rourkela, wo die Deutschen vor fünfzig Jahren das damals modernste Stahlwerk bauten, raten einem die anderen Passagiere, das Gepäck mit einer festen Eisenkette zu sichern. Auf dem Bahnhofsplatz liegt ein alter verkrüppelter Mann, halbnackt und von Fliegen übersät. Kein Mensch kümmert sich um ihn (JF 52/08).

Einmal in fünf Jahren haben die Armen Indiens aber Gelegenheit, der politischen Elite ihre Meinung zu sagen. Beim „Festival der Demokratie“, von dem die Völker in der benachbarten Volksrepublik China nur träumen können, sind 714 Millionen Inder wahlberechtigt. Die Beteiligung ist traditionell hoch: Hier wird mit dem Abgeordneten abgerechnet, der die versprochene Wasserleitung, den Stromanschluß oder die Wohngarantie im Slum „vergessen“ hat. Meist kehrt etwa die Hälfte der per Mehrheitswahlrecht bestimmten 543 Parlamentarier nicht mehr ins Haus des Volkes (Lok Sabha) zurück – abgewählt in einem logistischen Meisterstück, das über vier Wochen gestreckt werden muß, damit Wahlhelfer und Sicherheitskräfte von einem Gliedstaat zum nächsten ziehen können. Am 16. Mai wird ausgezählt – und zwar schnell, daß zuverlässige Ergebnisse schon 24 Stunden später im Fernsehen kommentiert werden.

2004 wurde die von der hindu-nationalistischen BJP geführte Regierung davongejagt. Nicht zuletzt deshalb, weil sie ihren Wahlkampf mit dem Slogan „leuchtendes Indien“ geführt hatte – eine Erinnerung an den beträchtlichen Wachstumssprung auf knapp acht Prozent im Jahr, an eine wachsende, konsumfreudige Mittelschicht von inzwischen vielleicht 200 Millionen Menschen. Aber die Armen haben wenig gespürt von der neuen Pracht, und sie sind die – überwiegend auf den Dörfern lebende – Mehrheit.

Dort haben sich in den letzten zehn Jahren an die 100.000 Bauern das Leben genommen, weil sie die Kredite der Geldverleiher nicht mehr bedienen konnten. Aus der offiziellen Statistik läßt sich ablesen, daß die Zahl der unter der Armutsgrenze Lebenden um 20 Prozent gewachsen ist. Über die Hälfte der Inder muß mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen. Im „Global Hunger Index 2008“ findet sich die Wirtschaftsmacht unter 88 Entwicklungsländern abgeschlagen auf Platz 66, während der große Rivale China auf Platz 15 springen konnte. Im 69 Millionen Einwohner zählenden Gliedstaat Madhya Pradesh leiden mehr Menschen an Hunger als in Äthiopien und im Sudan. In den Städten schlagen Bettlerkinder Räder vor den Limousinen der Wohlhabenden. 42 Prozent der indischen Kleinkinder unter fünf sind unterernährt und im Wachstum zurückgeblieben. Die Staatsausgaben für die Gesundheit betragen nur zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts – in China ist es doppelt soviel.

Der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen hat seiner Regierung deshalb die „Armut ihrer Politik“ vorgeworfen. Er hat aber auch gesagt, daß es dank Pressefreiheit keine Hungersnot mehr gegeben hat. Sechzig Jahre nach der Unabhängigkeit fragt keiner mehr, ob die indische Demokratie Bestand haben werde. Eine Schlüsselszene (der durch ein Jauchefaß tauchende junge Held) in dem Film „Slumdog Millionaire“ gibt einen Hinweis auf die Dynamik, die in diesem oft chaotisch anmutenden Land steckt: Mit einem Durchschnittsalter von 23 Jahren ist die indische Gesellschaft jünger als die chinesische. Ihre Chancen wären enorm – wenn es ihr gelänge, das Armutsproblem zu lösen und die negativen Auswirkungen der Globalisierung zu kontrollieren.

Aber mit jedem Prozent an zusätzlichem Wachstum schiebt man nur rund eine Million Menschen über die Armutsgrenze. Das alte Weltbankmodell (Sickereffekt), dem auch die deutsche Bundesregierung folgte, funktioniert nicht. Von 1.000 Rupien, die die Zentralregierung in Delhi ausgibt, landen höchstens 150 auf den Dörfern. Das hat der 1991 ermordete Premierminister Rajiv Gandhi beklagt – und seither hat sich nichts gebessert. Der indische Staat ist zu schwach, seine Bürokratie zu ineffizient und zu korrupt, um den Armen in einer freien Wirtschaftsordnung mit sozialen Maßnahmen beizustehen.

Die sagen heute sogar, daß es ihnen in den Zeiten des „Nehru-Sozialismus“, mit der sogenannten Hindu-Wachstumrate von drei Prozent im Jahr, besser gegangen sei. Denn der Staat ziehe sich, auch auf Rat der Weltbank, zunehmend aus einstmals leidlich funktionierenden Bereichen wie Gesundheits- und Erziehungswesen zurück. Selbst für sauberes Trinkwasser (in Plastikflaschen) muß heute bezahlt werden, „ein Desaster für die Armen“, so der Soziologieprofessor T. K. Oommen. Die Einkommensschere zwischen Arm und Reich, zwischen Stadt und Land geht immer weiter auseinander. Die Landwirtschaft, die nach wie vor die allermeisten Menschen beschäftigt, wächst um weniger als drei Prozent.

Weiterhin hängen die Ernten wesentlich vom Monsun ab. In den letzten zwei Jahrzehnten sind die unter Bewässerung stehenden Flächen nicht vergrößert worden. 22 Prozent der Landarbeiter verdienten weniger als zwölf Rupien am Tag, gerade 18 Eurocent, so der angesehene Sozialarbeiter Swami Agnivesh in Delhi. Nicht nur für sie ist das billigste Auto der Welt, der Tata Nano für 100.000 Rupien (1.514 Euro), unerschwinglich. Andere sehen zwei Indien entstehen, ein wohlhabendes und ein bitterarmes – eine Tendenz, die ein korruptes, sich zunehmend auf die Seite der Reichen schlagendes Justizsystem noch verstärkt.

Dem bisherigen Premierminister Manmohan Singh, der sich mit der Kongreßpartei zur Wiederwahl stellt, werden die Wähler auch noch andere Themen anlasten, etwa die schwache staatliche Reaktion auf den Terroranschlag von Bombay (Mumbai) (JF 50/08). Als Folge der internationalen Finanzkrise sind bereits mehrere Millionen Arbeitsplätze verlorengegangen. Schon im Januar sind die Exporte um ein Viertel gefallen, was auch mit dem bisherigen „outsourcing“ Amerikas und Europas im Bereich Informationstechnologie zusammenhängt.

Auch ohne die Krise gäbe es keine adäquaten Jobs für 85 Prozent der Graduierten, für 75 Prozent der Ingenieure. In China sind 2007 etwa 25mal so viele akademische Aufsätze erschienen wie in Indien. „Unser größtes Handicap ist die Qualifizierung unserer Menschen“, sagt der Politologe Mahesh Rangarajan. Manche Wähler kritisieren, daß es auch unter Singh, einem bescheiden auftretenden und in England ausgebildeten Ökonomen, nicht zu einer juristischen Aufarbeitung vergangener Verbrechen gekommen ist. Das Pogrom gegen die Sikhs von 1984 (an dem führende Kongreß-Politiker beteiligt gewesen sein sollen) ist ebensowenig gesühnt wie die blutigen Ausschreitungen gegen die Muslime in Gujarat 2002, für die Hindu-Chauvinisten von der BJP verantwortlich sind. Genausowenig ist es Singh und der gerne säkular auftretenden Kongreßpartei gelungen, den wachsenden religiösen Extremismus der Hindu-Mehrheit zu zähmen, der sich hauptsächlich gegen die christliche Minderheit entlädt (JF 37/08).

Manmohan Singh ist 76 Jahre alt, sein Gegenspieler von der BJP, Lal Krishna Advani, ist 81. Viele sehen in Singh daher nur eine Marionette der Gandhi-Dynastie, die im Hintergrund bereits den erst 38jährigen, politisch kaum erfahrenen Rahul Gandhi (Urenkel von Jawaharlal Nehru) als nächsten Premierminister aufbaut. Auch die Vorstrafenliste vieler Abgeordneter ist keine Auszeichnung für die indische Demokratie.

Wahrscheinlich ist daher, daß keine der beiden großen Parteien am 16. Mai mit einem Ergebnis abschneidet, das zur Regierungsführung befähigt. Die Segmentierung der indischen Politik hat weiter zugenommen. Die wichtigen Figuren sind heute Landespolitiker, die ihre Gliedstaaten wie eigene Länder führen. Und so ist es denkbar, daß Anfang Juni die sogenannte dritte Front die Zentralregierung übernimmt, eine bunte Sammlung von Regional- und Kastenparteien, der viele Beobachter eine längere Amtszeit nicht zutrauen.

Anführen könnte diese Front die 53 Jahre alte Kumari Mayawati von der BSP. Die Chefministerin des bevölkerungsreichsten Gliedstaats Uttar Pradesh ist dort – trotz Korruptionsgerüchten – viermal wiedergewählt worden, sie wäre die erste Dalit (Unberührbare) im höchsten Regierungsamt. Schon ihr bisheriger Aufstieg symbolisiert einen großen Erfolg indischer Demokratie: daß es ohne eine blutige Revolution, sondern über die Wahlurne gelungen ist, das immer noch bestehende schändliche Kastensystem durchlässiger zu machen.

Foto: Wählerinnen in Madhya Pradesh: Der indische Staat ist zu schwach, um den Armen beizustehen

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