© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/09 08. Mai 2009

Geistige Sonderwege
Niederlagendenken: Betrachtungen zur Deutung des 8. Mai 1945
Baal Müller

Wenn sich alljährlich zum 8. Mai die üblichen Verlautbarungen des politisch-publizistischen Mainstreams wiederholen, daß die Deutschen 1945 ihre Befreiung und nicht etwa eine Niederlage erlebt hätten, sollten es die Befürworter einer unideologisierten Betrachtungsweise nicht dabei bewenden lassen, lediglich auf die historischen Zusammenhänge hinzuweisen.

Zweifellos verfolgten die Alliierten das von ihnen oft und deutlich genug ausgesprochene Ziel, Deutschland als Feindstaat zu besiegen, zu besetzen und als Machtfaktor auszuschalten, und selbstverständlich empfand kaum ein Deutscher, der das Kriegsende mit allen Demütigungen und Vernichtungen miterleben mußte, dies als Befreiung – von KZ-Insassen, sofern sie nicht in sowjetischen Lagern weiter inhaftiert blieben, abgesehen.

Und doch genügt es nicht, das konkrete Erleben gegen nachträgliche Umdeutungen zu verteidigen: „Dabeigewesen“ zu sein, macht bei geschichtlichen Ereignissen, deren „Sinn“ sich erst im Rückblick herausstellt bzw. zwischen konkurrierenden Deutungen ausgehandelt wird, nicht unbedingt schlauer, und selbst hinter dem Schlagwort von der „Befreiung“ steht das hermeneutische Grundprinzip jeder historischen Betrachtung, daß vergangene Ereignisse immer wieder neu und anders interpretiert werden.

Daß die Sieger über die Deutung der Geschichte bestimmen, ist nur die eine Hälfte der Wahrheit; zwar haben sie zunächst die Macht, ihre Version durchzusetzen, doch langfristig kann gerade aus der Verliererposition ein Erkenntnisfortschritt erwachsen, da, wie der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch gezeigt hat, der Verlierer – gegenüber dem selbstzufriedenen Sieger, der überzeugt ist, alles richtig gemacht zu haben – zu einer grundlegenden Reflexion seiner Positionen und Identität(en) genötigt ist.

Schivelbusch untersucht in seinem Werk über „Die Kultur der Niederlage“ (Alexander Fest Verlag, 2001) eingehend, welche Phasen der kollektiven Traumatisierung Nationen nach Niederlagen idealtypisch durchlaufen: Auf einen lähmenden Schrecken folgt die spontane Volkserhebung und Revolution, in deren Verlauf das eben noch bejubelte, nun für alles Unheil verantwortlich gemachte „alte Regime“ abgesetzt wird, so daß man sich anschließend mit dem Sieger geradezu verbrüdern kann, da man ihm ja die neugewonnene Freiheit verdankt. Sollten dessen Versprechungen aber bald Lügen gestraft werden, kommt zum Gefühl der Niederlage auch noch dasjenige hinzu, betrogen worden zu sein, und es wird eine umfassende Deutungsmaschinerie in Gang gesetzt, die den schrecklichen, als ungerecht empfundenen Ereignissen einen Sinn abzuringen sucht.

Dies kann zu Verzerrungen wie der Dolchstoßlegende führen, nach welcher das im Felde unbesiegte Heer an der Heimatfront verraten wurde, oder, falls die militärische Niederlage selbst nicht bestritten wird, zu der Begütigungsformel, daß man lediglich wegen der materiellen Übermacht, technischen Überlegenheit oder geschickteren Propaganda des Feindes verloren habe und eigentlich der moralische Sieger sei – ersteres spaltet die Nation, letzteres kann den kulturkonservativen Gestus begünstigen, sich der als spezifisch für den Sieger empfundenen „unlauteren“ Technik, Ökonomie und Gesellschaftsform zu widersetzen.

Eine dritte Alternative kann jedoch in der zielgerichteten Analyse bestehen, welchen zivilisatorischen Innovationen der Sieger seinen Erfolg verdankt, wie man sich diese ebenfalls zunutze machen kann, ohne an seiner national-kulturellen Identität Schaden zu nehmen, und worin eine solche überhaupt besteht. Während sich der Sieger noch auf seinen Lorbeeren ausruht und die veralteten Industrieanlagen des Verlierers zu Reparationszwecken demontiert, ist letzterer zu umfassenden Reformen genötigt, die ihm in künftigen Konfliktfällen Vorteile verschaffen – darin besteht der „Vorsprung der Besiegten“.

Es ist nicht verwunderlich, daß Schivelbusch solche Innovationsschübe samt der zugehörigen intellektuellen Debatten am Beispiel der Nachkriegssituationen des amerikanischen Bürgerkriegs, des deutsch-französischen Kriegs und des Ersten Weltkriegs beschreiben kann, nicht aber anhand des Deutschland nach 1945: „Es gibt verschiedene Grade des Unterliegens und des Am-Ende-Seins. Solange sie über ein intaktes Selbstbewußtsein verfügen, sind Verlierernationen nicht bereit, der Forderung nach moralisch-spiritueller Kapitulation (Reue, Bekehrung, Re-Education) zu entsprechen. Das ändert sich erst, wenn neben der physischen auch die spirituell-moralische Grundlage des Landes zerstört ist. Soweit waren die Verlierer von 1865, 1871 und 1918 noch nicht“ – zweifellos aber die von 1945, deren Niederlage eben eine „totale“ gewesen ist, in militärischer und politischer, kultureller und moralischer Hinsicht, was wesentlich mit Hitlers Geschick zusammenhing, sein persönliches sowie sein politisches Schicksal mit dem des Deutschen Reiches zu verbinden. Deutschland erscheint seinen Meinungsführern seitdem als von der Geschichte gleichsam widerlegte Nation, und seine letzte Berufung kann oder darf nur noch darin bestehen, möglichst schnell und rückstandslos im „Westen“ aufzugehen.

Es gibt kaum historische Vorbilder für ein produktives, die nationalen Restbestände erneuerndes Niederlagendenken im Fall der äußersten Katastrophe, vielleicht nur das antike Judentum: Dessen Propheten zogen aus der Zerstörung Israels durch die Babylonier nicht den – in der Antike naheliegenden – Schluß, daß sich die Götter der Feinde als dem eigenen Gott überlegen gezeigt hätten, sondern daß Niederlage und Exil Folgen des Abfalls von Jahwe gewesen seien, der durch besonderen Gehorsam wieder begütigt werden müsse. Durch diese Denkfigur konnte immerhin die religiöse Identität als Voraussetzung einer künftigen politischen Wiederaufrichtung bewahrt und sogar gekräftigt werden.

Für die Deutschen sieht es nach der Niederlage 1945 düster aus, und diese Düsternis hat sich nun, da auch die allerletzten geistigen Vermögenswerte, die vor 1918 geschaffen wurden und bis weit in die Nachkriegszeit identitätserhaltend gewirkt hatten, verschleudert sind, zu einem bedrückenden Zustand gesteigert. Wer heute durch eine beliebige deutsche Großstadt geht, fühlt sich besiegter denn je. Und trotzdem gibt es noch geistige Sonderwege, die von kleinen „Traditionskompanien“ beschritten werden: etwa den Gedanken von einem „Geheimen Deutschland“, der immer dann aufkam, wenn das jeweils offizielle Deutschland zugrunde ging. Und da vieles dafür spricht, daß dies bald wieder der Fall sein könnte, soll man solche Wege getrost weitergehen.

 

Baal Müller , Jahrgang 1969, studierte Germanistik und Philosophie in Heidelberg und Thüringen. 2004 promovierte er zum Dr. phil. Heute ist er als Publizist und Verleger tätig.

Soeben erschien von ihm das Buch „Der Vorsprung der Besiegten. Identität nach der Niederlage“ (Kaplaken 14), Edition Antaios, Schnellroda 2009, kartoniert, 96 Seiten 8,50 Euro

Foto: Deutschlandfahnen auf dem Reichstagsgebäude: Langfristig kann aus der Verliererposition ein Erkenntnisfortschritt erwachsen

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