© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/09 08. Mai 2009

Ströme von Blut
Politische Zeichenlehre LXXIII: Rote Fahne
Karlheinz Weissmann

Der 1. Mai als „Tag der Arbeit“ ist ein „roter Tag“. Die Farbe dominiert alle Demonstrationen, ganz gleich ob sie von Sozialdemokratie, Gewerkschaften, irgendwelchen linksradikalen oder nationalsozialistischen Gruppen geprägt werden. Es ist das Rot der Arbeiterbewegung und eigentlich das Rot der Revolution: eine Verknüpfung, die der Erklärung bedarf, denn es ist noch nicht ganz vergessen, daß Rot ursprünglich ein Symbol der Herrschaft und kaiserlicher oder königlicher Würde war. Tatsächlich gibt es zwischen dem traditionellen und dem revolutionären Rot einen Zusammenhang.

Nachdem es während der Französischen Revolution, am 17. Mai 1791, zu Krawallen auf dem Marsfeld bei Paris gekommen war, hatte die Stadtverwaltung einen roten Wimpel auf das Rathaus gesetzt, um die Verhängung des Ausnahmezustands durch den König zu signalisieren. Die Volksmenge reagierte wütend und verlangte, das Tuch niederzuholen (eine Erinnerung daran hat sich erhalten in der Zeile der Marseillaise: „Contre nous de la tyrannie l’ étendard sanglante est levé“ – „Wider uns ist die blutige Standarte der Tyrannei erhoben“), und schließlich gaben die Beamten nach. Ein Jahr später – der König war entmachtet – führten die Revolutionäre in Demonstrationen eine rote Fahne mit, Zeichen für das „Kriegsrecht des Volkes“.

Als Emblem der Volkssouveränität haben dann vor allem die Jakobiner die rote Farbe verwendet. Wer ihre „rote Mütze“ trug, galt auch nach dem Ende der Revolution als „Roter“, als Träger einer neuen, der „roten Gefahr“. Deren Bedrohlichkeit erkannten nicht nur die alten Führungsschichten Europas, sondern auch das durch die große Umwälzung aufgestiegene Bürgertum, so daß es in den Revolutionen von 1830 und 1848 zur Spaltung der Opposition in eine bürgerliche und eine proletarische Bewegung kam. Während die eine für ihre liberalen Ziele weiter unter der Trikolore kämpfte, hißte die andere jetzt rote Fahnen auf den Barrikaden.

Nach der Februarrevolution von 1848 forderte der Sozialist Louis Blanc sogar, die rote Fahne zur Nationalflagge Frankreichs zu machen. Ein vergeblicher Vorstoß, aber als linkes Parteizeichen setzte sich die rote Fahne durch. In Deutschland hat zuerst der von Ferdinand Lassalle gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein von 1863 eine rote Fahne verwendet. Diese Tradition übernahm dann die Sozialdemokratie und hielt an ihr bis in die Gegenwart fest. Ähnliches ließ sich in den Arbeiterparteien fast aller Länder Europas beobachten, und es schien in der historischen Logik zu liegen, wenn Karl Marx die unter roten Fahnen kämpfende Pariser Kommune für die Vorhut der kommenden Weltrevolution hielt.

Die blieb allerdings aus, und die europäische Sozialdemokratie rückte am Ende des 19. Jahrhunderts allmählich von der Erwartung auf den großen Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung ab. Die Mäßigung führte rasch zum Bruch mit denen, die an der ursprünglichen Zielsetzung festhalten wollten, und zur Entstehung eines neuen radikalen Flügels. Dessen Führung übernahmen die russischen Bolschewiki, die sich nun als die eigentlichen „Roten“ im Kampf mit der verräterischen Sozialdemokratie (den „Gelben“) und der Reaktion (den „Weißen“) betrachteten.

Nach ihrem Sieg in der Oktoberrevolution schafften die Bolschewiki die russische Nationalflagge ab und führten die rote Fahne als Staatsflagge zuerst der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (1918) und dann der UdSSR (1922) ein. Sie blieb in dieser Gestaltung über Jahrzehnte fast unverändert. Wie Hammer und Sichel oder der Sowjetstern wurde die rote Fahne darüber hinaus Teil eines revolutionären Lebenszeremoniells, das die ganze Existenz des „Sowjetbürgers“ durchdringen sollte und überhaupt als Modell für die neue, die „rote“ Menschheit diente.

Mit ähnlicher Entschiedenheit hat nur noch das kommunistische China jeder symbolischen Überlieferung abgeschworen und sich der roten Fahne zugewandt. An dieser Entscheidung hält man bis heute fest, trotz des Zusammenbruchs der Sowjetunion und obwohl die KP längst mit der alten Ideologie gebrochen hat. Das macht die Geschichte der roten Fahne noch unübersichtlicher – ohne daß sich die verschiedenen Strömungen der Linken daran gehindert fühlen, ein Symbol zu verwenden, dessen Farbe immer auch an die Ströme von Blut erinnern sollte, die in seinem Zeichen vergossen wurden.

Die JF-Serie „Politische Zeichenlehre“ des Historikers Karlheinz Weißmann wird in zwei Wochen fortgesetzt.

Foto: Chinesische Flagge: Jeder Überlieferung abgeschworen 

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