© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/09 15. Mai 2009

Osmanische Renaissance
Türkei: Angesichts der Aussichtslosigkeit von Ankaras EU-Ambitionen setzt die Regierung auf eine neue mehrdimensionale Außenpolitik
Günther Deschner

Die Entscheidung des türkischen Premiers Recep Tayyip Erdoğan, sein Kabinett umfassend umzubilden, stand nach den Verlusten bei den Regionalwahlen vom April (JF 16/09) zu erwarten. Eine Überraschung war aber die Berufung Ahmet Davutoğlus zum neuen Außenminister. Erdoğan setzte ein Signal, das bei Verbündeten, Nachbarn und regionalen Partnern aufmerksam registriert wurde. Der Professor, der zuvor kein Regierungsamt ausgeübt und auch dem Parlament nicht angehört hatte, war bislang lediglich als außenpolitischer Berater des Ministerpräsidenten bekannt. Nur Eingeweihte konnten darüber spekulieren, inwieweit er Erdoğan und dessen seit 2002 regierender islamisch-konservativer AKP die Leitlinien der Außenpolitik vorgab.

Während sich in den Jahrzehnten zuvor die Außenpolitik des Nato-Mitgliedslandes Türkei gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten meist im Fahrwasser Washingtons bewegt hatte, hat sich die AKP von Anfang an bemüht, die Beziehungen zu muslimischen und arabischen Staaten in der Region zu verbessern. Ankaras Nahostpolitik war aktiver, eigenständiger und selbstbewußter geworden. Als warnendes Signal dafür, daß die Türkei sich auch ganz vom Westen abwenden könnte, war im Jahre 2003 die Weigerung des türkischen Parlaments verstanden worden, den US-Bodentruppen türkisches Territorium für den Einmarsch in den Irak zur Verfügung zu stellen.

Mit Davutoğlu, der als Architekt dieser „mehrdimensionalen Außenpolitik“ Erdoğans gilt, hat die Türkei nun einen Außenminister, der in den letzten Jahren tatsächlich eine neue Linie konzipiert und als Erdoğans Berater auch durchgesetzt hat. Nach der klassischen Neutralitätspolitik der ersten Jahrzehnte der modernen Türkei und der nach 1945 folgenden, ausschließlich auf den Westen orientierten Außenpolitik kommt jetzt die „multidimensionale Politik“ von Davutoğlu zum Zug. Der mit seinem Buch „Strategische Tiefe“ als Geopolitiker ausgewiesene 50jährige möchte der Türkei wieder zu größerem Einfluß in der eigenen Region verhelfen. Letztendlich will er an die Politik des Osmanischen Reiches anknüpfen und die Türkei in der ganzen einst beherrschten Region zu einem „osmanischen Faktor mit anderen Mitteln“ machen. Landeskenner setzen den Aufstieg Davutoğlus auch in eine direkte Beziehung zur Verschlechterung des türkischen Verhältnisses zur EU.

Solange der jetzige Präsident Abdullah Gül noch Außenminister war, hatte die Türkei ganz auf eine Annäherung an die EU gesetzt. Doch je länger einflußreiche europäische Politiker deutlich machten, daß die Türkei in der EU nicht willkommen ist, desto populärer wurde Davutoğlu mit seinem Konzept einer eigenständigen Politik im Nahen Osten, im Kaukasus, in der Kaspischen Region und gegenüber Rußland. Davutoğlu wurde von Erdoğan als Botschafter zu heiklen Missionen nach Syrien, in den Iran und in den Irak geschickt.

Das war, bis hin zu einer ersten Vermittlung zwischen Syrien und Israel, zunächst sehr erfolgreich und bis zu einem gewissen Grad auch dem Westen willkommen, wird aber spätestens seit Erdoğans Kontroverse mit dem israelischen Präsidenten Shimon Peres in Davos auch kritisch hinterfragt: Ist die Türkei nicht längst dabei, sich vom Westen ganz zu verabschieden?

Die Welt hatte sich so daran gewöhnt, daß die Türkei unter den weltweit über 50 Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung eine Sonderstellung einnahm: Sie ist als einziges muslimisches Land in der Nato, führt Beitrittsgespräche mit der EU, sie ist eine Demokratie – und sie unterhält normale Beziehungen zu Israel. Bislang wurde die Türkei weltweit als Brücke zwischen Orient und Okzident wahrgenommen. Das änderte sich auch nicht, als 2002 Erdoğans islamische AKP an die Macht kam, die das Land seither regiert. Erdoğan sah sein Land als Regionalmacht zu einer größeren Rolle disponiert. Er knüpfte die Kontakte zu arabischen Nachbarn enger, stärkte die Verbindungen zu Staaten der Region, intensivierte das Verhältnis zum Iran. Gleichzeitig gelang es, weiterhin auch gute Beziehungen mit Israel zu pflegen. Diese Politik der Äquidistanz bei der Suche nach einer größeren Rolle in der Region war bemerkenswert erfolgreich.

Doch die Beobachtung etwa der Türkei-Experten der Washingtoner Jamestown Foundation, daß sich in der Türkei Veränderungen der politischen Stimmung vollzogen, die die Orientierung des Landes deutlicher auf die Region als auf „den Westen“ verlegen, ließ aufhorchen. Die AKP-nahe Zeitung Zaman lobte die außenpolitische Wende als die bemerkenswerteste Errungenschaft der Regierung Erdoğan. Besonders hervorgehoben wird die wiedergewonnene Rolle als Regionalmacht.

Gesellschaftliche Entwicklungen innerhalb der Türkei haben ihren außenpolitischen Wandel, der sich parallel dazu vollzogen hat, lange in den Hintergrund treten lassen: Die innenpolitischen Spannungen, die aus der Herausforderung der traditionellen und um das Militär gruppierten prowestlich-urbanen Eliten durch ein neues und zur Macht drängendes mittelständisch-religiösen Bürgertum aus Anatolien entstanden, das seine politische Vertretung in der AKP Erdoğans gefunden hat, führten geradezu zu einer Identitätskrise. Diese schlug sich auch in den Kontroversen um die Wahl des Islamisten Gül in das Amt des Staatspräsidenten oder um das islamische Kopftuch nieder.

Auf einer Tagung in Deutschland sagte Davutoğlu im vergangenen Jahr, die Türkei fühle den Puls zweier Welten schlagen, der westlichen und der islamischen. Doch für ihn ist die Türkei mehr als nur eine Brücke zwischen dem Westen und der arabischen Welt. Er sieht sein Land in der Rolle einer Regionalmacht. Als muslimischer und zugleich säkularer Staat, der Islam und Demokratie miteinander verbindet, ist die Türkei in der Sicht Davutoğlus auch prädestiniert für die Rolle einer Vermittlerin im Nahen und Mittleren Osten.

Foto: Präsident Gül (l.), Premier Erdogan: Setzen auf die wiedergewonnene Rolle als große Regionalmacht

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