© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/09 22. Mai 2009

„Das Grundgesetz korrigieren“
Der Bundespräsident als Ersatzkaiser? Karl Doehring über die Präsidentenwahl und 60 Jahre Grundgesetz
Moritz Schwarz

Herr Professor Doehring, Deutscher Kaiser statt Bundespräsident – wäre das möglich?

Doehring: Tatsächlich gab es eine kleine Gruppe unter den Politikern, die ab September 1948 das Grundgesetz ausgearbeitet haben – zu der etwa der spätere Bundesaußenminister Heinrich von Brentano gehörte –, die mit der Wiedereinführung der Monarchie liebäugelte. Aber das war kein Vorschlag, der schließlich ernsthaft diskutiert wurde. Heute schließt die Festlegung unserer Staatsform im Grundgesetz – Stichwort: Bundesrepublik – eine Rückkehr zur Monarchie aus. Anmerkung: Das Kaiserreich war da allerdings toleranter, denn damals gab es innerhalb der Monarchie auch Republiken, wie zum Beispiel Hamburg.

Obwohl er Staatsoberhaupt ist, hat der Bundespräsident fast nichts zu sagen, und gewählt wird er von einem Gremium – der Bundesversammlung –, das wie Volk aussehen soll, aber keines ist.

Doehring: Man muß feststellen, daß die Väter des Grundgesetzes das Amt des Bundespräsidenten in gewisser Weise fehlkonstruiert haben. Denn eigentlich soll er als Repräsentant des Staates und des Volkes als Schicksalsgemeinschaft neutral über den Parteien stehen. Doch tatsächlich wird er von den Parteien vorgeschlagen und von ihnen gewählt. Er ist also notwendig politisiert und so könnten Bedenken bestehen hinsichtlich seiner Neutralität. Diesen Widerspruch gibt es übrigens häufiger im Grundgesetz: Bei den Bundesverfassungsrichtern haben wir das gleiche Problem, denn sie sollten politisch neutral sein, sind aber von Parlamentariern nach Parteiinteressen gewählt.

Die Lösung?

Doehring: Man blasphemiert heute gerne, was Kaiser Wilhelm II. bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs gesagt hat: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Dabei ist der Satz für den höchsten Repräsentanten des Staates, sei er nun Monarch oder Präsident, eigentlich vorbildlich. Und tatsächlich gelten unsere Bundespräsidenten um so vorbildlicher, je mehr sie in ihrer Amtsführung dieser Maxime entsprechen: Neutralität gegenüber den Tagesquerelen und Parteiinteressen. Also ist mein Lösungsvorschlag, die Stellung des Bundespräsidenten auszubauen, zum Beispiel indem er seine völlige Abhängigkeit von den Parteien verliert und statt dessen künftig durch direkte Volkswahl gestärkt wird.

Der Reichspräsident der Weimarer Republik wurde direkt gewählt, war aber dennoch politisiert: Der rechte Hindenburg gegen den linken Wilhelm Marx, später gegen Ernst Thälmann etc.

Doehring: Hindenburgs letzte Rundfunk-Wahlkampfrede 1932 schloß er mit den Worten, wer ihn nicht wählen wolle, der lasse es eben. Das war eine gelassene Auskunft: Ich stehe über den Parteien und wer mich nicht will, bitte! Das ist nicht Politisierung, sondern die Akklamation an das Volk: Wollt ihr mich oder wollt ihr mich nicht? Heute erscheint der Bundespräsident dagegen eher als ein Entsandter der Parteien. 

Warum hat man 1949 überhaupt wieder einen Präsidenten eingeführt, wenn der Mut fehlte, sich zu seiner Funktion zu bekennen?

Doehring: Die Frage ist berechtigt und wird auch von Fachleuten gestellt. Weil die Väter des Grundgesetzes glaubten, man brauche einen Repräsentanten, der über den Parteien schwebt. Im Grunde kommt dieser Gedanke aus der deutschen Verfassungstradition, denn er ist monarchisch inspiriert. Monarchische Länder, wie etwa Großbritannien oder früher das Deutsche Reich haben bzw. hatten diesen Dualismus, weil der Monarch zur Erledigung der Regierungsgeschäfte einen ersten Minister, einen Premierminister, oder bei uns einen Kanzler, bestellte. Anders als in einer klassischen Republik wie den USA, wo Staatschef und Regierungschef in einer Person vereint sind, gibt es hier also eine Trennung zwischen Repräsentation und Politik, zwischen Staat und Regierung. So gesehen ist der Bundespräsident eigentlich keine republikanische Einrichtung, sondern eher ein Bekenntnis zu Deutschlands royaler Tradition. Und an sich ist dieses Erbe auch eine Bereicherung für unser Verfassungswesen, wenn das Amt auch entsprechend ausgebaut wäre und nicht nur ein schamvoll entmachtetes Feigenblatt. Dann könnte der Bundespräsident diese vom Deutschen Kaiser geerbte und, wie man etwa in Großbritannien sieht, für eine Gesellschaft stabilisierende Funktion auch richtig wahrnehmen.

Die Wahl des Bundespräsidenten findet am 23. Mai statt, dem sechzigsten Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes und damit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Aber ist die Bundesrepublik eigentlich ein legitimer Staat? Völkerrechtlich gesehen waren die Alliierten doch gar nicht befugt, einen neuen Staat an die Stelle des Deutschen Reiches von 1919 zu setzen?

Doehring: Im Mai 1945 gab es in Deutschland bereits keine staatliche Ordnung mehr. Die bedingungslose Kapitulation war unterschrieben, die Alliierten übten die aufgegebene Staatsgewalt treuhänderisch aus. 

Nachdem sie die Regierung abgesetzt hatten.

Doehring: Das stimmt, aber diese Regierung entsprach ja längst nicht mehr den verfassungsmäßigen Grundsätzen. Denn der Reichskanzler, also Hitler, hatte laut Weimarer Reichsverfassung nicht das Recht, eigenmächtig einen Nachfolger zu bestimmen. Der von ihm zum Reichspräsidenten ernannte Karl Dönitz, der nach Rücktritt des letzten Kabinetts Hitler am 2. Mai 1945 bis zum Ende des Krieges am 8. Mai bzw. bis zu seiner Verhaftung durch die Briten am 23. Mai, formell regierte, besaß also keinerlei verfassungsrechtliche Legalität.

Die Verfassung von Weimar war de jure nie abgeschafft. Haben die Alliierten also nicht selbst getan, was sie Hitler vorwarfen, nämlich die verfassungsmäßige Ordnung gestürzt?

Doehring: Der Parlamentarische Rat, die Versammlung, die damals das Grundgesetz ausgearbeitet hat, hätte ja verlangen können, die Weimarer Reichsverfassung wieder in Kraft zu setzen. Das hat er aber nicht getan. Und auch sonst haben die Deutschen diesbezüglich nicht die Stimme erhoben.

Der spätere SPD-Bundesminister, Staatsrechtler und Mitglied des Parlamentarischen Rates Carlo Schmid nannte die Bundesrepublik 1948 „die Organisationsform einer Modalität der Fremdherrschaft“.

Doehring: Es stimmt, das Grundgesetz stand unter dem Vorbehalt, daß die Alliierten den Entwurf am Ende billigen mußten. Außerdem haben sie dem Parlamentarischen Rat diverse Auflagen gemacht, so verlangten die Franzosen etwa, daß es wieder Föderalismus gebe, die USA forderten zum Beispiel Gewerbefreiheit. Aber all das macht das Grundgesetz nicht illegitim, und außerdem entsprachen diese Forderungen inhaltlich sowieso der deutschen Tradition. Davon abgesehen war die konkrete Gestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung ganz in der Hand des Parlamentarischen Rates. Nein, das verfassungsrechtliche Problem des Grundgesetzes liegt anderswo: Eigentlich sollte eine Verfassung nämlich Ausdruck des Selbstbestimungsrechts eines Volkes sein, so ist es etwa in der Charta der Vereinten Nationen gefordert. Das Grundgesetz ist aber nicht Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Volkes, sondern wurde durch Beschluß der Landesparlamente in Kraft gesetzt.

Aber ist Carlo Schmids Wort „Fremdherrschaft“ nicht das Todesurteil für etwas, das eigentlich Selbstbestimmung ausdrücken soll?

Doehring: Das ist an sich richtig, aber in der bundesdeutschen Verfassungsgeschichte wird argumentiert, das deutsche Volk habe durch seine eindeutige Beteiligung an den Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag am 14. August 1949 mit immerhin 78,5 Prozent seine Zustimmung zu dem neuen Staat nachträglich gegeben. Zum Vergleich: Bei der Bundestagswahl 2005 hatten wir nur 77,7 Prozent. Übrigens stieg schon bei der nächsten Bundestagswahl 1953 die Beteiligung auf 86 Prozent und bis 1972 gar auf den Höchstwert von 91,1 Prozent. Erst 1990 – ausgerechnet im Jahr der Wiedervereinigung – fiel sie erstmals wieder unter die Achtzig-Prozent-Marke. Die Argumentation der praktischen Zustimmung des deutschen Volkes ist also stichhaltig. Die Deutschen haben sich von Anfang an als gute Demokraten erwiesen.

Was ist dann dran an der Behauptung von der „Demokratie als Geschenk der Alliierten“?

Doehring: Die Deutschen haben seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine absolut respektable eigene demokratische Tradition entwickelt. In einem modernen und weltweit führenden Vereins- und Parteienwesen haben damals mehr Deutsche die demokratischen Spielregeln erlernt, als die Bürger in den meisten anderen Ländern. Das hat dazu geführt, daß die Weimarer Reichsverfassung von 1919 dann aus dieser Tradition heraus eine der modernsten Verfassungen überhaupt war, zum Beispiel mit Frauenwahlrecht lange bevor das flächendeckend in manchen Ursprungsländern der Demokratie eingeführt wurde. Und es ist nicht so, daß die Deutschen die Demokratie freiwillig abgewählt hätten, weil sie die Demokratie nicht mochten. Im Gegenteil, sie hätten sich gewünscht, daß sie funktioniert: „Abgewählt“ haben sie sie nur, weil sie am Ende eben nicht mehr funktioniert hat und das Land quasi unregierbar geworden war. Und dabei war das Votum für Hitler noch nicht einmal ein Votum gegen die Demokratie, denn viele dachten 1933, zunächst ist eben mal Hitler Reichskanzler – bis zur nächsten Reichstagswahl. An all diese ausgeprägten Traditionen konnte dann 1949 angeknüpft werden. Die Behauptung, die Alliierten und später die Achtundsechziger hätten den Deutschen die Demokratie erst beibringen müssen – abgesehen natürlich von der nur im Dritten Reich aufgewachsenen jungen Generation – ist völlig falsch.

Die Deutschen können also auf das Grundgesetz als eine eigene Leistung stolz sein?

Doehring: Auf jeden Fall. Viele Elemente des Grundgesetzes entsprechen deutscher Verfassungstradition und selbst die, die neu sind, entspringen spezifischen historischen Erfahrungen der Deutschen. Zum Beispiel die sogenannte Ewigkeitsklausel, nach der Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes inhaltlich nicht abgeschafft werden können – auch nicht wenn hundert Prozent des Bundestages dies beschließen würden. Ein Gedanke, den zum Beispiel in England, wo das Parlament völlig souverän ist, niemand verstehen würde. Allerdings liegen hier auch die Ursachen für die Probleme, die das Grundgesetz uns heute bereitet.

Inwiefern?

Doehring: Bei der verfassungsrechtlichen Konstruktion der Bundesrepublik ging man, erschreckt durch den Eindruck der spezifischen deutschen Erfahrung mit Hitler, von dem Grundgedanken aus, peinlich alle Fehler zu vermeiden, so etwa daß wieder eine Diktatur kommt, daß Extremisten Freiheiten genießen, daß die Regierung instabil, daß der Rechtsstaat ausgehöhlt wird, daß unbegrenzte Verfassungsänderungen zulässig seien.

Das klingt allerdings einleuchtend.

Doehring: Aus der damaligen Sicht mag das zutreffen. Aber die Konsequenz ist, daß diese Angst die freiheitliche und staatspolitische Idee des Grundgesetz bis heute einfärbt. Im übrigen, ich bin mir sicher, daß auch das Grundgesetz trotz all dieser Vorkehrungen den politischen Stürmen der Weimarer Republik ebensowenig standgehalten hätte. Seine Vermeidungsstruktur bringt also nicht wirklich den Schutz vor dem, was sie abwehren soll, schränkt aber Freiheit und Partizipation der Bürger und die Funktionstüchtigkeit unseres Staates ein. Sie behindert die freie Entfaltung dessen, was eine freiheitliche Grundordnung eigentlich will. Ja, es ist geradezu ein Paradoxon: Man postulierte Demokratie und hatte doch wieder Angst vor der Demokratie, Angst vor einer quasi zu demokratischen Demokratie. Wenn jetzt zum sechzigsten Jahrestag das Grundgesetz überall als Erfolg gefeiert wird, dann stimmt das zwar, allerdings müssen wir auch zugeben, daß es tatsächlich keine einzige wirklich schwere Belastungsprobe aushalten mußte. Die Deutschen haben sich von Anfang an als gute Demokraten erwiesen, die Angst vor dem Volk, die dem Grundgesetz unterschwellig innewohnt, hat sich als unbegründet erwiesen. Das gilt jedenfalls so lange, als ein gemeinsames Wertebewußtsein besteht und nicht zu Multikulturalismus verkommt.

Also müßte man das Grundgesetz liberalisieren?

Doehring: Im Grunde ja. Das Volk wird alle vier Jahre gefragt und ist dazwischen durch die politischen Parteien mediatisiert, hat also nicht viel zu sagen. Aus Furcht vor Extremisten gibt es kaum plebiszitäre Elemente, wie sie etwa die Weimarer Republik noch kannte. Dabei weiß die Forschung heute, daß diese nicht für den Untergang Weimars verantwortlich waren. Der unmittelbare Eindruck, den die Väter des Grundgesetzes diesbezüglich aus Weimar mitbrachten, entspricht nicht den historischen Tatsachen.

Was, wenn das nicht gelingt?

Doehring: Ich befürchte, daß dann die Verkrustungen, zum Beispiel der verfassungswidrige, aber immer wieder praktizierte Fraktionszwang und der Reformstau immer mehr zunehmen, bis alles in Verbindung mit anderen Krisen – auch in Weimar war es eine Verknüpfung verschiedener Krisen – wieder zu einer für die Stabilität von Staat und Gesellschaft bedrohlichen Situation führen könnte. Gelingen uns allerdings die Reformen, bin ich zuversichtlich, daß das Grundgesetz auch Grundlage für unsere Zukunft sein wird.

Oder steht es vielleicht schon wieder vor seinem Ende? Stichwort: Lissabon-Vertrag.

Doehring: Das muß nicht, könnte aber so kommen, wenn wir immer mehr Souveränitätsrechte nach Europa transferieren – Europa aber ist keine Demokratie im staatsrechtlichen Sinne. Ich kann nur hoffen, daß die Bürger am Ende aufwachen und diesmal bereit sind, ihre Demokratie zu verteidigen – für Deutschland und für Europa!

 

Prof. Dr. Karl Doehring: Der ehemalige Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (www.mpil.de) hat umfassend auf den Gebieten des Staatsrechts und des Völkerrechts publiziert. Unter anderem beschäftigte er sich mit der Rechtslage Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und dem Völkergewohnheitsrecht. Geboren 1919 in Berlin, lehrte Doehring zunächst in Göttingen und München und wurde Inhaber eines Lehrstuhls für Staats- und Völkerrecht an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Von 1981 bis 1985 war er außerdem Vorsitzender der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht. Heute ist der Emeritus als einfaches wissenschaft­liches Mitglied am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völker-recht tätig.Wichtigste Veröffentlichungen: „Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland“ (Metzner, 1984); „Allgemeine Staatslehre“ (C.F. Müller, 1991); „Völkerrecht. Ein Lehrbuch“ (C.F. Müller, 1999); „Von der Weimarer Republik zur Europäischen Union“ (Verlag Wolf Jobst Siedler jr., 2008)

 

weitere Interview-Partner der JF

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen