© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/09 22. Mai 2009

Diskrete Bußexerzitien
Wahl des Bundespräsidenten: Horst Köhler zeichnet sich im Gegensatz zu manchen seiner Vorgänger durch eine nüchterne Amtsführung aus
Thorsten Hinz

Die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung sind so knapp, daß man über den Sieger keine Wette abschließen möchte. Union, FDP und Freie Wähler, die den Amtsinhaber Horst Köhler unterstützen, verfügen nominell über 614 von 1.024 Stimmen, also über eine knappe absolute Mehrheit. Doch wer mag schon voraussagen, ob die Kandidaten alle Stimmen aus ihren Lagern auf sich versammeln können? Vor fünf Jahren hatte ihm seine alte und neue Hauptrivalin Gesine Schwan wenigstens neun Stimmen abspenstig gemacht.

Bundespräsident Horst Köhler, Jahrgang 1943, hat in seiner fünfjährigen Amtszeit dem Land eher gut- als schlechtgetan. Völlig überraschend war der ehemalige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und Präsident des Internationalen Währungsfonds 2004 von der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel auf den Schild gehoben worden – als Auftakt für eine schwarz-gelbe Politikwende. Zu der aber kam es nicht, und Köhler wirkte deplaciert und planlos.

Sein programmatisch gemeinter Satz über Deutschland als „Land der Ideen“ weckte Verlegenheit. Allmählich aber wurde eine atmosphärische Veränderung an der Staatsspitze spürbar. Die öffentlichen Bußexerzitien, denen sein Vorgänger Johannes Rau sich lustvoll hingab, handhabt er wesentlich diskreter. Immerhin hat er es geschafft, seine frühere Existenz als Vertreter der Finanzwelt vergessen zu machen – mitten in der Finanzkrise eine erstaunliche Leistung. Bei öffentlichen Auftritten wirkt er noch immer leicht verunsichert, was ihm Sympathien einbringt. Vermutlich wertet man das als Zeichen seiner Authentizität, die ihn von aalglatten, nichtssagenden Politikprofis unterscheidet.

Von dieser äußeren Differenz wird auf seine innere Distanz zur politischen Klasse geschlossen. Seine Mahnungen an die Bundesregierung, endlich mit dem Regieren anzufangen, seine Kritik an Gesetzen, die ihm den Vorwurf einbrachte, seine Kompetenzen zu überschreiten, haben den Eindruck bestätigt und ihm Popularität verschafft. Sein außenpolitisches Interesse gilt Afrika, was als Beleg einer menschenfreundlichen Gesinnung gilt. Es ist aber zweifelhaft, daß er die öffentliche Aufmerksamkeit für den Schwarzen Kontinent dauerhaft stärken kann. Die Enttäuschung darüber, daß den gewährten Hilfen für Afrika keine Fähigkeit zur Selbsthilfe entspricht, ist längst zu groß geworden. Köhler löst keine Begeisterung aus, doch kann man sich schlechtere Kandidaten vorstellen.

Die SPD-Kandidatin Gesine Schwan hat das Verdienst, den Nebelvorhang besonderer Würde, Weihe und Diskretion, der die Präsidentenwahl umflort, handstreichartig zerfetzt zu haben. Fast immer gingen der Wahl kleinliche Kalkulationen und persönlicher Ehrgeiz voraus. Im Fall von Johannes Rau, der sich nach dem Amt verzehrte und dabei öffentlich stets verbreitete, er habe sich nicht gedrängt, sondern sei von seinen politischen Freunden „gerufen“ worden, wurde das Illusionstheater endgültig zur Schmierenkomödie. Die Wortergreifungsstrategie der 66 Jahre alte Politikprofessorin, die im vergangenen Jahr altersbedingt als Präsidentin der Universität von Frankfurt an der Oder abtrat und ihre Kandidatur selber betrieben und propagiert hat, wirkte deshalb erfrischend.

In einem Land mit gefestigtem Selbstwertgefühl würde ihre Kandidatur sich allerdings erledigt haben, als sie in eine von polnischen Politikern und Medien losgetretene Hetzkampagne gegen die Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach lautstark einstimmte. Sie mag das für originell, emanzipiert, einer imaginierten postnationalen Wirklichkeit für angemessen halten. In Wahrheit ist es eine alte deutsche Unart, sich gegen innenpolitische Gegner mit Verbündeten aus dem Ausland zu versehen. Politisch steht sie – nach eigenen Worten – für die Notwendigkeit eines „neuen Gesellschaftsvertrags“ und den Anspruch, „freiheitlich, klug und mutig die Herausforderungen der Zukunft anzunehmen und zu meistern“. Sie bemüht sich, ihre Intellektualität als Vorzug gegenüber dem Amtsinhaber herauszustellen, was dann so klingt: „Wir brauchen auch eine starke Zivilgesellschaft, um die Demokratie zu sichern. In einer Gesellschaft der Mitläufer riskiert der Mutige sein Leben. In einer Gesellschaft der Bürger mit Zivilcourage nicht, denn sie kann ein Bollwerk errichten gegen Machtmißbrauch und Willkür. Deshalb müssen wir gerade unter den vergleichsweise günstigen Bedingungen der Demokratie Zivilcourage einüben und praktizieren.“ Besteht das Problem heute nicht darin, daß die „Zivilcourage“ als massenhaftes Mitläufertum organisiert wird, einen Erwerbszweig und eine Form geistig-moralischer Korruption darstellt? Was sagt Schwan zu den sich mehrenden Bekenntnis- und Gesinnungszwängen, was zu den hybriden Ansprüchen und paranoiden Auswirkungen der Zivilreligion, was zur Fremdbestimmung durch die EU-Bürokratie, zu der Aussicht, daß der EU-Beitritt der Türkei gegen den Volkswillen durchgepeitscht werden wird? Ihre Rhetorik erschöpft sich letztlich bloß in dem, was Gerhard Schröder als „und so Gedöns“ verspottete.

Dennoch schaut man bei der Linkspartei mit Neid auf die Aktivitäten Schwans und ihr enormes Medienecho. Denn genau das hatten Gysi und Lafontaine mit ihrem Wunschkandidaten, nach dem sie so lange wie am Ende vergeblich suchten, ebenfalls gewollt: in die mediale Offensive kommen, Spekulationen über Koalitionen nähren, am Ende die eine oder andere Stimme zu sich herüberziehen und nebenbei das Terrain für ein breites Linksbündnis bereiten. Es kursierten die Namen von Alice Schwarzer, Christa Wolf oder Jürgen Habermas, bis schließlich der 72 Jahre alte Fernsehkommissar Peter Sodann präsentiert wurde: ein integrer Mann, ein linker Sozialist, der in der DDR bespitzelt und inhaftiert worden war. Sodann allerdings war weder willens noch fähig, den angedachten Part zu spielen. Aufsehen erregte er lediglich mit dem öffentlich geäußerten Wunsch, Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann eigenhändig hinter Schloß und Riegel zu befördern. Danach wurde es still um ihn. Die Verlegenheit der Personalie war so offensichtlich, daß die Linkspartei ihren Kandidaten beinahe versteckte. Zu gemeinsamen Auftritten mit der Parteiprominenz kam es kaum. Sodann hat sich als Bewerber für die „Bronzemedaille“ bezeichnet und angekündigt, auch im möglichen dritten, entscheidenden Wahlgang zu kandidieren. Damit aber würde er die Bewerbung Schwans torpedieren, die auf die Stimmen der Linken angewiesen ist und mit diesen auch fest rechnet. Sollte es zum dritten Wahlgang kommen, werden die Genossen ihn daher wohl aus dem Rennen nehmen.

Der vierte Kandidat, der Liedermacher Frank Rennicke, ist mit 45 Jahren der jüngste Bewerber. Er nennt sich einen „nationalen Barden“ und darf lediglich auf die vier Stimmen der NPD- und DVU-Vertreter in der Bundesversammlung fest zählen. Im Vorfeld brachte er es zu einem kleinen Eklat, weil die Bundestagsverwaltung seine Selbstdarstellung zunächst kommentarlos ins Netz stellte. Mit Sodann teilt er neben der Aussichtslosigkeit der Bewerbung eine Verfolgungsgeschichte, der erst das Bundesverfassungsgericht ein Ende bereitete. Als Bezugsgrößen seiner theoretischen Präsidentschaft nannte er Hindenburg und Kurt Schumacher, außerdem würde er den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez besuchen. Warum die Kandidatur? „Es ist für uns Nationaldenkende letztlich wie bei der Olympiade: Dabeisein ist alles! Und vielleicht gibt es ja doch noch einzelne verantwortungsvolle Mitglieder der Bundesversammlung außerhalb unserer eigenen Parteifreunde, denen Gewissen vor Fraktionszwang steht. Was wäre wohl los, wenn auf mich mehr als die vier eigenen Stimmen fallen würden? (...) Das verzogene Gesicht einer Merkel, der Zeigefinger von Paolo Pinkel oder der Tobsuchtsanfall eines Herrn Struck wären allein schon ein Argument!“

Interessant dürfte es werden, wenn im dritten Wahlgang eine haarscharfe Entscheidung zwischen Köhler und Schwan fällt und Rennickes Wahlmänner hinterher erklären, daß sie es waren, die dem Sieger ins Amt verholfen haben.

Fotos: Amtssitz Schloß Bellevue in Berlin: Der Präsident hat dem Land eher gut- als schlechtgetan, Präsidenten-Standarte

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