© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/09 29. Mai 2009

Der Kampf um die fünfte Modernisierung
Vor zwanzig Jahren ließ Deng Xiaoping auf dem Platz des Himmlischen Friedens die chinesische Demokratiebewegung niederwalzen
Peter Kuntze

Am 4. April 1976, dem chinesischen Totensonntag, versammelten sich vor dem Heldendenkmal auf dem Tiananmen-Platz in Peking Hunderttausende, um des im Januar gestorbenen Regierungschefs Zhou Enlai zu gedenken. Die Mehrheit der Trauernden indes machte aus der Kundgebung eine politische Demonstration, deren verschlüsselte Botschaften jedermann zu deuten wußte: Überall an den Alleebäumen hingen kleine Weinflaschen, und auf zahlreichen Plakaten war eine Katze abgebildet. Dreizehn Jahre später jedoch, im Frühjahr 1989, lagen an Pekings Straßenrändern ungezählte Flaschenscherben; auf Wandzeitungen sah man zwar erneut eine Katze, diesmal aber war sie entweder durchgestrichen oder baumelte am Galgen. Und wieder wußten alle, wer gemeint war: Deng Xiaoping.

Sein Vorname, Xiaoping, bedeutet „kleiner Frieden“; er kann aber auch, anders geschrieben, doch genauso ausgesprochen, „Fläschchen“ heißen. Am Schicksal dieses 1,55 Meter kleinen Mannes, den seine Freunde den „pfeffrigen Napoleon“ nannten, weil ihn unglaublicher Wagemut und ein Verstand „scharf wie Pfeffer“ auszeichneten, läßt sich verständlich machen, warum er am 4. Juni 1989 den Befehl zur Niederschlagung der Demokratie-Bewegung gab.

1978 leitete Deng die „vier Modernisierungen“ ein

Im Jahr 1966, zu Beginn der Kulturrevolution, hatte Deng als „Renegat und konterrevolutionärer Revisionist“ sein Amt als KP-Generalsekretär abgeben und auf Veranlassung Mao Zedongs unter demütigenden Bedingungen sieben Jahre in seiner Heimatprovinz Szetschuan verbringen müssen. Immer wieder hatte er sich gegen linksradikale Tendenzen gestemmt, die auf subjektivistische Weisungen Maos zurückgingen, und gefordert, stets „die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen“. Statt auf den Klassenkampf müsse der Schwerpunkt der Politik auf den wirtschaftlichen Aufbau gelegt werden. Zum geflügelten Wort wurde Dengs pragmatische Devise: „Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist – Hauptsache, sie fängt Mäuse.“

Nach wiederholter Selbstkritik („Erleuchtet von den Ideen Mao Zedongs, muß ich mich bemühen, aus eigener Kraft da wieder aufzustehen, wo ich gefallen bin“), wurde Deng 1973 auf Anraten Zhou Enlais und auf persönliche Weisung Maos rehabilitiert. Bald stand Chinas bedeutendster Politiker der letzten Jahrzehnte wieder auf den höchsten Stufen der Macht – diesmal als stellvertretender Partei- und Regierungschef sowie als Generalstabschef der Streitkräfte.

Doch seine „Irrtümer“ hatte er ganz offentsichtlich nicht eingesehen. So kritisierte er viele Ergebnisse der Kulturrevolution und entfachte erneut, wie es 1975 hieß, einen „Wind von rechts“: Deng plädierte für materielle Anreize in der Produktion, förderte das Spezialistentum in den Betrieben und geißelte vor allem das niedrige Bildungsniveau in Schulen und Universitäten, das aufdas von den Linken eingeführte System der Verbindung von Theorie und Praxis zurückging.

Gerade diese Reform aber, die aus Arbeiter- und Bauernkindern durch die Vorrangstellung des „revolutionären Bewußtseins“ und der praktischen Tätigkeit „rote Experten“ machen sollte, war ein Kernpunkt der Kulturrevolution. Mao zufolge sollte auf diese Weise ein Staatskapitalismus wie in der Sowjetunion verhindert werden, wo eine neue Klasse von Technokraten und Bürokraten über das Volk herrsche. Im März 1976 fällte Mao daher das zweite politische Todesurteil über Deng Xiaoping: „Dieser Mensch packt nicht den Klassenkampf an. Also noch immer ‘weiße Katze, schwarze Katze’.“ Einen Monat danach, in der Folge der Unruhen am Totensonntag, wurde Deng all seiner Ämter enthoben.

Rund ein Jahr später jedoch, nach Maos Tod und dem Sturz der ultralinken „Vierer-Bande“ um dessen Witwe Qiang Qingi, hatte Deng die Macht zurückerobert. Mit 74 Jahren startete er seine dritte Karriere und legte ein atemraubendes Tempo vor, das bis heute dazu führte, daß China mittlerweile Deutschland als drittstärkste Wirtschaftsnation (nach den USA und Japan) abgelöst hat.

Im Dezember 1978 leitete Deng die „Politik der Reform und Öffnung“ ein. Ziel war es, bis zum Jahr 2000 das Bruttosozialprodukt durch die „vier Modernisierungen“ (der Industrie, der Landwirtschaft, der Wissenschaft und Technik sowie des Militärs) zu vervierfachen. Als erstes wurden die Volkskommunen aufgelöst und die Privatwirtschaft erlaubt. Ausländische Investoren erhielten so lukrative Konditionen, daß bald massenhaft Kapital in die an den Küsten eingerichteten Sonderwirtschaftszonen floß. Das Ergebnis glich einem Wunder: Aus dem Armenhaus China, in dem noch 1978 eine katastrophale Mangelwirtschaft herrschte, wurde ein moderner Staat mit imposanten Großstädten, einem riesigen Autobahnnetz und einem ehrgeizigen Weltraumprogramm.

Die Demonstranten 1989 wollten nur eine Perestroika

Die ersten, die im Zeichen der von Deng ausgegebenen Parole „Bereichert euch!“ zu Wohlstand kamen, waren clevere Bauern, von denen es manche sogar zu Yuan-Millionären brachten. Doch der rasante Aufschwung war nicht ohne Schattenseiten: hohe Inflationsraten, Korruption auf allen Ebenen und eine gigantische Umweltverschmutzung. Besonders unter Intellektuellen und Arbeitern wuchs der Unmut, denn sie waren damals die großen Verlierer der Reformen. Noch bis in die späten achtziger Jahre verdiente ein Professor weniger als ein Taxifahrer, und in den maroden Staatsbetrieben waren Löhne und Gehälter gleich geblieben. Wie so häufig artikulierten die Studenten der Peking-Universität als erste den Widerstand und forderten eine „fünfte Modernisierung“ – jene des verkrusteten politischen Systems.

Auslöser der Protestbewegung war der Tod des ehemaligen KP-Chefs Hu Yaobang am 15. April 1989. Von Deng 1980 an die Spitze der Partei geholt, hatte Hu als erster die Kulturrevolution eine „Katastrophe“ genannt und die Orthodoxen so vehement herausgefordert, daß er 1987 entmachtet wurde. Jetzt forderten die Studenten die Rehabilitierung Hus und aller Oppositioneller, die damals im Zuge der Kampagne gegen die „bürgerliche Liberalisierung“ bestraft worden waren. Ferner verlangten sie die Aufhebung des Demonstrationsverbots, die Abschaffung des Pressemonopols von Staat und Partei sowie die Offenlegung der Vermögensverhältnisse aller Spitzenfunktionäre. Dieser Forderungskatalog solle von allen Medien veröffentlicht und im Parlament erörtert werden.

In den nächsten Tagen und Wochen schwoll die Protestbewegung immer stärker an. Auf dem Tiananmen, dem Platz des Himmlischen Friedens, errichteten die Studenten eine Zeltstadt und verhinderten durch Sitzblockaden die Räumung des symbolträchtigen Ortes. Pausenlos trafen aus dem ganzen Land Solidaritätsadressen ein. Die Staats- und Parteiführung reagierte hilflos, da sie sich in der Einschätzung der Unruhen uneins war: Die Reformer, an der Spitze KP- Chef Zhao Ziyang, äußerten Sympathie für die Studenten, während die Orthodoxen um Premierminister Li Peng einen Umsturz des Systems befürchteten.

Im Mai eskalierte die Lage, als zahlreiche Studenten in den Hungerstreik traten. Abordnungen aus allen Provinzen kamen nach Peking, um ihre Unterstützung zu bekunden, zeitweise zogen Hunderttausende durch die Straßen und forderten Freiheit und Demokratie. Die Mehrheit machte indes klar, daß sie nicht den Sturz der KP oder die Abschaffung des Sozialismus wolle, sondern „Glasnost“ und „Perestroika“ wie in der Sowjetunion.

Am 15. Mai traf der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow zu einem schon vor Monaten vereinbarten Besuch in Peking ein, der das Ende der dreißigjährigen Feindschaft zwischen beiden Ländern besiegeln sollte. Doch die Demonstranten machten das historische Treffen zur Farce: Statt auf dem Platz des Himmlischen Friedens mußte Chinas Partei- und Staatsführung den Gast auf dem Flughafen begrüßen, die Kranzniederlegung am Heldendenkmal mußte gestrichen werden und Gorbatschow auf Seitenwegen und durch Hintertüren in die „Große Halle des Volkes“, das Parlamentsgebäude, geleitet werden. Welch ein Gesichtsverlust für Deng und seine Genossen vor den Augen der Welt!

Die „fünfte Modernisierung“ steht nach wie vor aus

Als die Studenten auch noch eine „Göttin der Demokratie“ als Nachbildung der New Yorker Freiheitsstatue errichteten, sah Deng Xiaoping sein Lebenswerk endgültig bedroht und ließ in der Nacht vom 3. zum 4. Juni nach Rücksprache im Politbüro das Militärrecht verhängen. Die Armee erhielt den Befehl, den „konterrevolutionären Putsch“ in Blut zu ersticken. Wehrlose Menschen wurden von Panzern zermalmt, fliehende Studenten hinterrücks erschossen, Soldaten von aufgebrachten Demonstranten gelyncht. Nach offiziellen Angaben kamen 287 Zivilisten ums Leben, mehr als 3.000 wurden verletzt – doch die tatsächliche Zahl blieb unbekannt.

Bis heute ist der 4. Juni für Chinas Führung ein Schreckensdatum, denn immer wieder wird die Forderung nach Neubewertung der damaligen Ereignisse laut. Zwar wurde Hu Yaobang mittlerweile rehabilitiert, doch Zhao Ziyang, der von 1989 bis zu seinem Tod im Jahr 2005 unter Hausarrest stand, gilt nach wie vor als Unperson. Deng Xiaoping, 1997 im Alter von 93 Jahren gestorben, hat seinen Nachfolgern ein prekäres Erbe hinterlassen: Auf der einen Seite ist China heute eine allseits respektierte Weltmacht, auf der anderen Seite hat sich im Gefolge der globalen Wirtschaftskrise wieder enormer sozialer Zündstoff angesammelt – vor allem aber steht die „fünfte Modernisierung“ nach wie vor aus.

Peter Kuntze, Autor des China-Romans „Himmlischer Frieden“ (1990), war von 1968 bis 1997 Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“.

Fotos: Chinesische Studenten sitzen am 22. Mai 1989 vor der Großen Halle des Volkes in Peking einer Polizeieinheit gegenüber: Die Armee erhielt in der Nacht vom 3. zum 4. Juni 1989 den Befehl, den „konterrevolutionären Putsch“ in Blut zu ersticken, Deng Xiaoping: Renegat

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