© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/09 05. Juni 2009

Roter Korridor bedroht die Sicherheit
Indien: Der 76jährige Premier Singh kann dank der Stimmen der Jungwähler weiterregieren / Soziale Probleme bleiben ungelöst / Korruption grassiert
Erhard Haubold

Singh is King“, skandieren vor allem junge Menschen in Indien. Sie feiern einen alten Mann, dem zweierlei gelungen ist: Wie wenige seiner Vorgänger hat Manmohan Singh die gesamte Amtszeit von fünf Jahren als Premier durchgestanden. Und bei den größten Parlamentswahlen der Welt hat seine Kongreßpartei das beste Ergebnis seit 1991 eingefahren, nicht zuletzt dank der Leistungen und Fähigkeiten des 76jährigen Ökonomen, die da heißen: wirtschaftlicher Sachverstand, Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Fähigkeit zum Kompromiß und absolute Unbestechlichkeit.

Singh, den sie „Doktor“ nennen (er hat an Elite-Unis in England und Amerika studiert), macht weiter im höchsten Regierungsamt. Und die Kongreßpartei hat zwar nicht die absolute Mehrheit im Unterhaus (Lok Sabha) mit 543 Sitzen geschafft, aber mit 206 Mandaten doch soviel dazu gewonnen, daß sie künftig ohne große Koalitionspartner, vor allem ohne die Kommunisten, arbeiten kann. Unabhängige unter den Abgeordneten und kleinere Regionalparteien sollten ihr das „Durchregieren“ erlauben. Das läßt Indiens Unternehmer aufatmen, heißt aber auch, daß alte Ausreden (Torpedierung von Reformen durch „linke“ Kräfte) nicht mehr ziehen.

Wieder einmal hat der indische Wähler die Meinungsforscher getäuscht. Kaum jemand hat die Wiederauferstehung der ältesten Partei des Landes vorauszusagen gewagt. Regional- und Kastenparteien haben herbe Verluste hinnehmen müssen, genauso die Kommunisten in ihrer Hochburg Westbengalen und die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP), die zweitgrößte Gruppierung im Lande. In der wirtschaftlichen Krise hat vor allem die Karte „Stabilität“ gestochen.

Überdies scheinen die Wähler genug zu haben von Parteien wie der BJP, die religiöse und ethnische Differenzen für ihre politischen Zwecke instrumentalisieren wollen: ein Lichtblick für die Muslime, aber auch für die Minderheit der Christen. Manche Beobachter sprechen von einem glücklichen Augenblick in der bewegten Geschichte Indiens, das „ein deprimierendes Land“ sein kann „mit seiner schrecklichen Armut, seinen schwärenden Slums, seinen oftmals verkrüppelten Bettlern und einer zum Wahnsinn treibenden Bürokratie. Aber dann gibt es Zeiten – und die Welt staunt –, da sich der Vorhang der Verzweiflung hebt und man stolz darauf ist, ein Inder zu sein“, schreibt der angesehene Kommentator Rahul Singh.

Auf den „Doktor“ soll der „Gucci-Gandhi“ folgen

Vierzig bis fünfzig Sitze im Parlament, schätzt der Publizist M.J. Akbar, dürfte die Kongreßpartei der Generation „unter dreißig“ (über 60 Prozent der Bevölkerung) verdanken. Spätestens hier ist Rahul Gandhi zu nennen, der 38 Jahre alte Nachwuchsstar der Gandhi-Dynastie. Wegen seiner modischen Schuhe und seinem politischen Novizentum anfangs als Gucci-Gandhi verspottet, ist es ihm gelungen, bei der jungen Generation Glaubwürdigkeit zu finden – und durch harte Arbeit der Kongreßpartei auch in Uttar Pradesh wieder festen Boden zu verschaffen, dem bevölkerungsreichsten Unionsstaat, der die größte Zahl an Abgeordneten nach Delhi schickt. Im Hintergrund zieht Mutter Sonia die Fäden. Und die „größte Demokratie der Welt“ richtet sich darauf ein, daß in ein paar Jahren wieder ein Mitglied der „Dynastie“ die Regierung führt. Nach Nehru, Indira Gandhi und Rajiv Gandhi wäre Rahul die vierte Generation.

Indien ist politische Stabilität zugewachsen. Und Manmohan Singh hat ein deutliches Mandat. Die „Mutter aller Herausforderungen“, so zwei Ökonomen im Indian Express, besteht darin, einerseits für kräftiges gesamtwirtschaftliches Wachstum zu sorgen, andererseits sicherzustellen, daß die Wohltaten auch die Ärmsten erreichen – daß auch das letzte der 600.000 Dörfer mit Trinkwasser, Strom, Lebensmitteln und festen Straßen versorgt wird. In diesem Bereich haben alle Regierungen seit der Unabhängigkeit vor 60 Jahren versagt.

Drei von vier Indern müssen mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen. Noch immer beherbergt Indien die meisten Armen dieser Welt, ist die Hälfte seiner Kinder unter fünf Jahren unterernährt, erscheinen Lehrer nicht in der Schule, weigern sich Polizisten, eine Strafanzeige entgegen zu nehmen. Nur ein Zehntel der Subventionen kommt bei den Bedürftigen an. Im Korruptionsindex von Transparency International rangiert Indien ein gutes Stück hinter China. Selbst Richter sind hier bestechlich. Ausländische Firmen beklagen beispielsweise, daß sie zehn Prozent der Investitionssumme an den zuständigen Minister zahlen müssen.

Dabei drängt die Zeit. Die jungen Leute, die diesmal in Scharen zur Wahlurne gegangen sind, leben in der Mehrheit in städtischen Slums und auf den Dörfern. Sie wollen Jobs, damit sie sich kaufen können, was sie abends im Fernsehen sehen: Jeans und T-Shirts. Die kommunistische Aufstandsbewegung der Naxaliten wächst und hat inzwischen einen „roten Korridor“ durch Indien bis nach Nepal gezogen, der, mindestens in der Nacht, ein Viertel des indischen Territoriums umfaßt. Premier Manmohan Singh hat die Naxaliten als die größte Bedrohung der nationalen Sicherheit bezeichnet. Sie haben ihre Wurzeln in den generellen Schwächen der indischen Demokratie: Entwicklungsversäumnissen, Vernachlässigung der Dörfer und mangelnde Rechtssicherheit für die Armen, die Mehrheit der Bevölkerung.

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