© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/09 05. Juni 2009

Arbeit am Mythos
Brüssel regiert in Berlin
Ralf Klassen

Seit Monaten disputieren Politologen um den „80-Prozent-Mythos“ (JF 18/09): über die Frage, in welchem Ausmaß die bundesdeutsche Rechtsordnung durch die hochtourig laufenden Gesetzes- und Verordnungsmaschinen der EU beeinflußt wird. Stimmt die Schätzung, daß der Bundestag zu achtzig Prozent eigentlich nur noch umsetze, was die EU vorgebe, hätten deutsche „Volksvertreter“ ein peinliches Legitimationsproblem.

Daß daher „Demokratietheoretiker“ über die ominösen „80 Prozent“ im Umfeld von „60 Jahre Grundgesetz“ und der am 7. Juni anstehenden Europawahlen in einen Zahlenstreit eigener Art geraten, erstaunt nicht – geht es doch um die „Systemfrage“. Käme das Gros der Regeln für unser Gemeinwesen aus Brüssel, ginge alle Macht nicht mehr vom deutschen Volk aus. Die Volkssouveränität als das ideologische Fundament der parlamentarischen Demokratie wäre soviel wert wie die konstitutionellen Deklamationen der einstigen kommunistischen „Volksdemokratien“.

Gläubige „Basisdemokraten“ muß der „Mythos“ darum heftig irritieren. Thomas König und Lars Mäder (Mannheim) wollen ihn mit allen statistischen Finessen erschüttert haben (Politische Vierteljahresschrift, PVS 4/08). Daniel Göler (Universität Passau) versucht sich nun an der „Widerlegung“ ihrer „Widerlegung“ des Mythos (PVS, 1/09). Seine Methodenkritik zielt auf die selektive Verwertung des Zahlenmaterials. So beschränkten sich König und Mäder auf die Brüsseler Beeinflussung der deutschen „Gesetzgebungsarena“. Sie ignorierten weite Bereiche ideeller und normativer Europäisierung ebenso wie die unmittelbare Wirkung von EU-Verordnungen.

Völlig ausgeklammert werde die Landesgesetzgebung. Dabei habe der Bologna-Prozeß das „komplette Hochschulsystem der Bundesländer tiefgreifender verändert als alle Bildungsreformen der 1970er Jahre“, ohne daß ein Abgeordneter zwischen Stuttgart und Schwerin bei diesem Eingriff in seine „Kernkompetenz“ gefragt worden wäre. In ihrer Replik in der gleichen Ausgabe geben sich König und Mäder unbeeindruckt: eine „computer-linguistische Auswertung“ der Gesetzestexte werde ihre Entmythologisierung schon noch triumphieren lassen. 

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