© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/09 05. Juni 2009

Parlamentarische Wahlen
Es gewinnt immer die Bank
von Gernot Hüttig

Die Ansicht, daß ein einzelner oder eine Gruppe als solche, etwa aufgrund göttlicher Abstammung, adliger Beschaffenheit oder eines anderen substantiellen Attributs zur Herrschaft über andere berufen sei, dünkt uns märchenhaft. Nahezu märchenhaft geworden ist aber inzwischen auch die bürgerliche Vorstellung, zwar nicht eine Person als solche sei zur Herrschaft berufen, jedoch die Vernunft.

Die Retorte, in der jene Vernunft durch Zusammenführung ihrer unter den Menschen ungleich verteilten Bruchstücke herauszudestillieren war, nämlich die Institution des Parlaments, hat sich mittlerweile in eine historische Kulisse verwandelt. Die großen Entscheidungen sind nicht länger das Ergebnis des Abgleichs der Meinungen in öffentlicher Rede und Gegenrede. Kaum einer würde sich deshalb heute noch die Mühe machen, am Fernseh- oder Rundfunkgerät einer Parlamentsdebatte zu lauschen – wenn sie denn ausgestrahlt würde –, was vor 50 Jahren noch weithin ein Bedürfnis der ganzen Nation war. Selbst den Abgeordneten wird die parlamentarische Präsenz mehr und mehr zur Last. Nicht die Vernunft im Diskurs zur Herrschaft zu bringen, sondern ermittelte und gewogene Interessen zu balancieren, ist heute die Aufgabe, die freilich zweckmäßigerweise hinter verschlossenen Türen in immer engeren Ausschüssen erledigt wird. Wahlen zielen nur noch auf die Ermittlung und Gewichtung von Interessen.

Die Interessen werden arithmetisch ermittelt und gewichtet: die einer 51prozentigen Mehrheit dominieren die der 49prozentigen Minderheit. Es stellt sich dann die für das Zusammenleben existentielle Frage: Warum erwächst der Minderheit kein Recht auf Widerstand? Carl Schmitt, der Staatstheoretiker des 20. Jahrhunderts, läßt uns wissen: „Der heutige, auf der Herrschaft jeweiliger Mehrheiten beruhende parlamentarische Gesetzgebungsstaat kann das Monopol legaler Gewaltausübung den jeweiligen Mehrheitsparteien nur so lange ausliefern und nur so lange von der Minderheit den Verzicht auf das Widerstandsrecht verlangen, als die gleiche Chance der Mehrheitsgewinnung wirklich besteht und diese Voraussetzung seines Gerechtigkeitsprinzips noch irgendwie glaubhaft ist.“

Die Chance der Mehrheitsgewinnung ist nämlich bedroht, und zwar durch einen politischen Mehrwert, eine „überlegale Prämie auf den legalen Besitz der fraglichen Macht und auf die Gewinnung der Mehrheit“. Diese Prämie hat, so Schmitt, drei Facetten. Zum einen berechtigt sie zur verbindlichen Auslegung und Handhabung von unbestimmten und Ermessensbegriffen wie „Gefahr“, etwa bei der Genehmigung von Demonstrationen, oder „Verfassungsfeindlichkeit“, einem Begriff, der sich als Waffe im Kampf gegen mißliebige Parteien bewährt hat – als Waffe, deren Durchschlagskraft um so größer ist, als es gelingt, die Nagelprobe der verfassungsgerichtlichen Klärung des Vorwurfs zu vermeiden. Zum anderen streitet im Zweifelsfall, der in politisch schwieriger Lage regelmäßig eintritt, bei solchen unbestimmten Begriffen die Vermutung der Legalität für den Inhaber der Staatsmacht.

Und zu guter Letzt sind dessen Anordnungen auch bei zweifelhafter Legalität zunächst einmal sofort vollziehbar, so daß der Beschwerte auf den häufig zu spät kommenden justizförmigen Schutz verwiesen ist, etwa in den Fällen der Verweigerung der Überlassung öffentlicher Räumlichkeiten an mißliebige Parteien und bei Eingriffen in deren Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Soweit der justizförmige Schutz im Einzelfall doch zum Zuge kommt, gilt dies für die öffentlichen Sachwalter keineswegs als Anlaß, im nächsten gleichgelagerten Fall der Rechtsordnung endlich zu genügen. Denn ebenjener Mehrwert bewahrt sie davor, zur Rechenschaft gezogen und in Regreß genommen zu werden.

Die Listen des Liberalismus liegen in der Verwandlung der Wahl in ein Plebiszit hinter dem Schleier eines Parteienkartells und dem weitgehenden  Verzicht auf „asiatische“ zugunsten subtilerer, freilich nicht weniger wirksamer Zwangsmittel.

Die Abschöpfung des Mehrwerts braucht sich aber nicht auf die Machenschaften der Exekutive zu beschränken. So können sich insbesondere im Recht des öffentlichen Dienstes rechtliche Strukturen etablieren, die das für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit vorgesehene Verfahren, insbesondere die verfassungsgerichtliche Zuständigkeit, unterlaufen, etwa durch die Behinderung des Engagements öffentlich Bediensteter für mißliebige Parteien – angesichts des unerschütterten Vertrauens des Publikums in den öffentlichen Dienst ein geradezu tödliches Handicap für jene Parteien. Überdies muß sich der von den Herrschenden gebrauchte Staat nicht auf schlichte Behinderungen und Benachteiligungen der um die Macht konkurrierenden politischen Kräfte beschränken, sondern kann zu aktiven Eingriffen übergehen, deren sich, wenn sie versehentlich ruchbar geworden waren, das Zarenregime noch geschämt hatte: so der Entsendung von agents provocateurs, die die Taten, welche den Vorwand für die staatlichen Repressalien liefern, überhaupt erst herausfordern oder gleich selbst begehen.

Die Abschöpfung des Mehrwerts kann sogar in den Institutionen der Legislative, den Parlamenten, zur Gewohnheit werden: Nimmt sich das Volk heraus, Abgeordnete einer mißliebigen Partei in ein Parlament zu wählen, so verhindern wenig später auf jene Partei zugeschnittene Maßnahmegesetze oder Geschäftsordnungsänderungen, den Willen jener Wähler zu Gehör zu bringen. Woran zu denken Schmitt seinerzeit noch keinen rechten Anlaß hatte, ist die konzertierte Aktion der öffentlichen Sachwalter und der sogenannten indirekten Mächte, allen voran der Medien, in Gestalt einerseits der offenen Diskriminierung, andererseits der Ingangsetzung der „Schweigespirale“ (Elisabeth Noelle-Neumann); und ebensowenig an die von den Herrschenden aufs Pferd gesetzte Verfolgermeute, die von ihrer Zivilcourage im Kampf gegen den Unterlegenen nicht erst überzeugt werden muß. Gar nicht erst die Rede soll von den außenpolitischen Zwangsmitteln sein, die in der neueren österreichischen Geschichte zum Zuge kamen.

Das Prinzip der Chance zur politischen Machtgewinnung, das damit aufgegeben ist, bildet die Essenz der parlamentarischen Ordnung. Mit ihm steht und fällt das Recht der Minderheit zum Widerstand. Dazu Schmitt: „Wird dieses Prinzip preisgegeben, so gibt der parlamentarische Gesetzgebungsstaat sich selber, seine Gerechtigkeit und seine Legalität preis.“ Schmitt trat mit dieser Warnung am 19. Juli 1932 vor die Öffentlichkeit. Ihn trieb die Sorge, den politischen Mehrwert nicht in die Hände einer totalitären Partei gelangen zu lassen, von der er befürchtete, sie werde hinter sich die Tür zuschlagen. Die Sorge war berechtigt, die Warnung jedoch, wie wir wissen, vergeblich.

Schmitt stand die Herrschaft einer einzigen totalitären Partei vor Augen, nicht aber die politisch raffiniertere, weil für die Menge schwerer durchschaubare eines Parteienkartells, das hinter sich die Tür zuschlagen und die draußen davor verharrende Einfalt durch in den Kostümen variierte Fassungen des gleichen Stücks erbauen würde. Er, der wie kein anderer die Listen des Liberalismus durchschaute, hätte auch in diesem Fall der von der Chance der Machtgewinnung abgeschnittenen Minderheit das Recht zum Widerstand nicht versagt.

Welche Gestalt aber könnte dieser Widerstand annehmen? Eine Antwort auf diese Frage dürfen wir von Schmitt nicht erwarten, weil nur die Beglaubigung des Rechts zum Widerstand, nicht aber der Widerstand selbst in die Kompetenz des Juristen fällt, der notwendigerweise Kronjurist ist, da sein Gegenstand die Anwendung einer positiven, das heißt einer ihm gegebenen Norm ist.

Indessen dürfen wir von einem Geist Antwort erwarten, der die Seinsweisen des Waldgängers und des Anarchen reflektiert und praktiziert hat. Ernst Jünger beschreibt 1951 in seinem Essay „Der Waldgang“ die Lage, in der es keine freie Wahl mehr gibt, sondern dem Wähler nur noch die Gelegenheit geboten wird, sich an einem Beifall spendenden Akt zu beteiligen, und das Plebiszit, um die Illusion der Freiheit zu erhalten, sich in die Form der freien Wahl kleidet. Auch hier gilt es, die Listen des Liberalismus zu durchschauen, nämlich die Verwandlung der Wahl in ein Plebiszit hinter dem Schleier eines Parteienkartells und den weitgehenden Verzicht auf „asiatische“ zugunsten subtilerer, freilich nicht weniger wirksamer Zwangsmittel, deren bestgetarntes die auf die Isolierungsangst des einzelnen zielende Schweigespirale ist.

Jüngers Überlegungen kreisen um die Wahl zwischen der Nichtbeteiligung und dem nur einem oder zwei von hundert Wählern zuzutrauenden Ankreuzen des Nein. Die Nichtbeteiligung gehöre zu den Haltungen, die den Leviathan beunruhigten, doch deren Möglichkeit der Außenstehende leicht überschätze, weil sie angesichts der Bedrohung rasch schwinde. Man wird hinzufügen dürfen, daß die Enthaltsamkeit des Wählers die Legitimität des Systems nicht notwendigerweise schmälert, sondern im Gegenteil sogar als Zeichen der Zufriedenheit gedeutet werden kann, was dann auch bezweifeln läßt, daß die von Jünger angedeutete Bedrohung, die der Wahlenthaltung den Garaus zu machen geeignet wäre, heute noch real ist.

Wie dem auch sei: Wir sehen den Widerstand durch Nichtbeteiligung wachsen. Der Verdacht liegt allenthalben in der Luft, daß Wahlen die Volksherrschaft nur noch simulieren und ihnen beschieden ist, den Ausschluß des Volkes von den Entscheidungen über seine existentiellen Belange – etwa die Kriegführung, die Einwanderung, die Währungsfrage und die Übertragung der Souveränität auf übernationale Einrichtungen – zu verhüllen: Entscheidungen, die alle Glieder des Parteienkartells einmütig treffen und sich so einer Bestrafung bei der nächsten Wahl entziehen. Der Nichtbeteiligung an der Wahl entspricht der sich beschleunigende Rückzug der Bürger aus den Parteien und Gewerkschaften. Beides, Nichtbeteiligung und Rückzug, sind Seiten der gleichen Medaille.

Das ausdrückliche Nein, das insbesondere auch in der Wahl stigmatisierter und von der Machtteilhabe von vornherein ausgeschlossener Parteien liegt, begegnet nach Jünger nicht weniger Ambivalenzen. Jene eine von hundert Nein-Stimmen nützt nämlich letztendlich dem Veranstalter des Plebiszits. Sie nährt zum einen die bezweckte Illusion der Freiheit. Und sie gestattet zum anderen den Hinweis auf die Weiterexistenz des Feindes, so daß sie den Vorwand für die Fortsetzung des vielgestaltigen und für viele einträglichen „Kampfes gegen den Verfassungsfeind“ liefert. Der Wahlzettel hat sich nämlich längst in einen Fragebogen verwandelt: wer als einziger von hundert das Nein ankreuzt, wirkt an einer Behördenstatistik mit und gewährt dem Machthaber die erwünschten Aufschlüsse. Für diesen wären hundert von hundert Stimmen beunruhigender gewesen, weil dann jeder verdächtig geworden wäre.

Der Verdacht liegt nahe, daß Wahlen die Volksherrschaft nur noch simulieren und ihnen beschieden ist, den Ausschluß des Volkes von den Entscheidungen über seine existentiellen Belange – Kriegführung, Einwanderung, Währungsfrage – zu verhüllen.

„Der Wähler steht vor der Klemme, daß er zur freien Entscheidung eingeladen wird durch eine Macht, die sich ihrerseits nicht an die Spielregeln zu halten gedenkt. Es ist die gleiche Macht, die ihm Eide abfordert, während sie selbst vom Eidbruche lebt. Er leistet also einen guten Einsatz bei einer betrügerischen Bank. Daher kann niemand ihm einen Vorwurf machen, wenn er nicht auf die Fragestellung eingeht und sein Nein verschweigt.“ Jünger verweist auf geeignetere Orte, Nein zu sagen, als die, die der Machthaber auserkoren hat und zu denen insbesondere die Wahlurne zählt. Selbst die Notiz „Ich habe Nein gesagt“ in einem öffentlichen Telefonbuch bewirkt danach mehr als das Nein auf dem Stimmzettel.

Jünger benennt allerdings auch die Würde desjenigen, der sich auf verlorenem Posten zu einem Nein auf dem Stimmzettel entschließt. Diese Würde prägt sich indessen auf einem anderen als dem bisherigen politischen Gebiet aus. Das Nein, das den Gegner nicht erschüttert, verändert jenen, der sich zu ihm entschloß. „Diese Veränderung ist unabhängig vom Inhalt seiner Überzeugung – die alten Systeme, die alten Parteien werden mitverändert, wenn es zur Begegnung kommt. Sie finden zur ererbten Freiheit nicht zurück. Ein Demokrat, der mit einer gegen neunundneunzig Stimmen für Demokratie gestimmt hat, trat damit nicht nur aus seinem politischen System, sondern auch aus seiner Individualität heraus. Das wirkt dann weit über den flüchtigen Vorgang, indem es nach ihm weder Demokratie noch Individuum im alten Sinne mehr geben kann. Das ist der Grund, aus welchem unter den Cäsaren die zahlreichen Versuche, zur Republik zurückzukehren, scheiterten. Die Republikaner waren im Bürgerkrieg gefallen, oder sie gingen verändert aus ihm hervor.“

Die Herrschaftsausübung durch Teilnahme an Wahlen entschleiert sich letztlich als eine Illusion. „Die geistige Unterwerfung“, so Jünger, „beginnt dort, wo man die Fragestellung aufnimmt, gleichviel, welche Antworten man dann auch findet.“ Und der seiner Freiheit beraubte Schmitt führt diesen Gedanken ex captivitate an den Rand des Abgrunds: „Das Motiv der Fragestellung ist meistens, uns selbst in unserer Existenz in Frage zu stellen.“ Wer auf Fragen antwortet, findet sich deshalb unversehens in der Lage des sich Verantwortenden, bleibt also ein ohnmächtiges Echo. An der Fragestellung selbst mitzuwirken, bleibt dem Volk versagt. Hans Herbert von Arnim und andere haben die Mechanismen des Ausschlusses und deren Verschleierung im einzelnen beschrieben.

Wer auf die Wirkungen der Nichtteilnahme und des Neins setzt, bewegt sich noch im Bereich der statistisch faßbaren Ordnung. Wer diese verläßt, betritt das Terrain „der Wölfe in der grauen Herde, das heißt: Naturen, die noch wissen, was Freiheit ist. Und diese Wölfe sind nicht nur an sich stark, sondern es ist auch die Gefahr gegeben, daß sie ihre Eigenschaften auf die Masse übertragen, wenn ein böser Morgen dämmert, so daß die Herde zum Rudel wird“. Und dämmert denn, so müssen wir uns heute fragen, nicht ein böser Morgen herauf, vielleicht der böseste unserer Geschichte, ein Morgen, dem kein weiterer folgt?

 

Gernot Hüttig, Jahrgang 1943, arbeitete seit 1970 als Jurist. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über „Grabmalkultur nach der Französischen Revolution“ (JF 49/08).

Foto: Plakate des Parteienkartells zur Europawahl: Carl Schmitt stand noch die Herrschaft einer einzigen totalitären Partei vor Augen, nicht aber die politisch raffiniertere, weil für die Menge schwerer durchschaubare einer Parteienoligarchie, die hinter sich die Tür zuschlagen und die draußen davor verharrende Einfalt durch in den Kostümen variierte Fassungen des gleichen Stücks erbauen würde

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