© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/09 12. Juni 2009

Teilhabe statt Fürsorge
Reform der sozialen Pflegeversicherung: Statt drei Pflegestufen künftig fünf Grade der Bedürftigkeit
Jens Jessen

Die soziale Pflegeversicherung (SPV) wurde 1995 eingeführt, und inzwischen erhalten über 2,25 Millionen Menschen daraus entsprechende Leistungen. Etwa zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt, ein Drittel in Heimen. Doch die „fünfte Säule“ der Sozialversicherung (neben Arbeitslosen-, Kranken-, Renten- und Unfallversicherung) geriet schon früh in die Kritik. Diese machte sich unter anderem am Pflegebedürftigkeitsbegriff des Gesetzes (SGB XI) fest, der zu eng an der zeitlichen Berechnung beim Ausgleich körperlicher Defizite orientiert wurde.

Die verrichtungsbezogene Versorgung der Pflegebedürftigen habe zur „Pflege im Minutentakt“ geführt. Der geltende Pflegebegriff sei vorrangig auf somatische (körperliche) Bedürfnisse begrenzt. Leistungen der SPV werden bisher nur bei einem Hilfebedarf von mindestens 90 Minuten täglich für Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung gewährt. Soziale, psychosoziale oder kommunikative Aspekte von Pflege sind ausgegrenzt.

Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung von 2005 wurde daher festgelegt, daß es mittelfristig einer Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs bedürfe, damit dieser künftig die aktuellen Erkenntnisse der Pflegewissenschaften berücksichtigt. Das Bundesministerium für Gesundheit setzte daher im November 2006 einen Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs ein, der damit beauftragt wurde, konkrete und wissenschaftlich fundierte Vorschläge für einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein damit eng verbundenes neues Begutachtungsverfahren zu erarbeiten.

Der Beiratsvorsitzende Jürgen Gohde sieht seine Aufgabe insbesondere darin, den Stellenwert guter Pflege in der öffentlichen Diskussion zu erhöhen. „Für den Beirat besteht ein Zusammenhang zwischen dem neuen Begutachtungsverfahren und der zukünftigen Sicherung der pflegerischen Infrastruktur, wenn es gelingt, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder hinauszuzögern sowie Menschen beizustehen, damit sie in Würde gepflegt und alt werden können.“ Um den Prozeß „Teilhabe statt Fürsorge“ in der Pflege anzustoßen, legt das neue Begutachtungsinstrument den Schwerpunkt auf die Erfassung von Selbständigkeitseinbußen in einem umfassenderen Sinn. Statt des bisher starren Zeitaufwands für Pflegeleistungen wird ein Punktesystem entwickelt, das die Hilfsbedürftigkeit des einzelnen Versicherten definiert. Es können deshalb auch Versicherte Leistungen in Anspruch nehmen, die zur Zeit dazu nicht berechtigt sind, weil sie keine körperlichen Einschränkungen haben. Statt drei Pflegestufen soll es nach der Vorstellung des Beirats fünf Grade der Bedürftigkeit geben. Von geringer Beschränkung bis zu schwerster Beeinträchtigung mit besonderem Pflegebedarf soll die neue Hilfspalette reichen. Die Bewertung orientiert sich an der Fähigkeit der Betroffenen, sich selbst zu versorgen.

Wie das derzeitige Verfahren arbeitet auch das neue Begutachtungsinstrument mit der Einteilung in Abstufungen, sogenannte Bedarfsgrade. Zur Ermittlung des Grades der Pflegebedürftigkeit werden die Ergebnisse aus den sechs Modulen (Mobilität, Kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Umgang mit krankheits-/therapiebedingten Anforderungen und Belastungen, Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte) zusammengeführt und in einem Punktwert zusammengefaßt, der je nach Höhe zur Zuordnung in einen der fünf Bedarfsgrade der Pflegebedürftigkeit führt. Diese reichen von „geringer“ über „erhebliche“, „schwere“ und „schwerste Pflegebedürftigkeit“ bis zu „besonderen Bedarfskonstellationen“. Die fünf Bedarfsgrade treten an die Stelle der bisherigen drei Pflegestufen und ermöglichen eine differenziertere Einschätzung als bisher.

Der Beirat hat auch versucht, die unterschiedlichen Ausgestaltungen der Begutachtungsverfahren und ihre finanziellen Auswirkungen zu berechnen. Verschiedene Simulationen mit unterschiedlichen Höhen des Pflegegeldes in den neuen Bedarfsklassen zeigen Mehrausgaben von 300 Millionen bis zu 3,6 Milliarden pro Jahr. Nach der Einführung der neuen Begutachterverfahren ist in den folgenden drei Jahren allerdings mit einem jährlichen Aufwand von 1,1 Milliarden Euro zur Erhaltung des Bestandsschutzes zu rechnen, da einmal garantierte Leistungen nicht einfach gekürzt werden können. Weitere Mehrkosten sind zu erwarten.

Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) will die Reform durch eine Bürgerversicherung finanzieren – das heißt: Alle Bürger mit allen Einkommen müßten bis zu einer Beitragsbemessungsgrenze zur Finanzierung beitragen. Das dürfte auf heftigen Widerstand seitens der privaten Pflegeversicherungen (PPV) stoßen.

Da die Vorschläge erst in der nächsten Legislaturperiode umgesetzt werden können, sind sie zu vervollständigen, wie es die Sozialverbände in Deutschland gefordert haben: Das neue Begutachtungsinstrument sollte im Sinn der Pflegeversicherung den gesamten Hilfe-, Rehabilitations- und Pflegebedarf trägerübergreifend und umfassend ermitteln. In der vorliegenden Fassung stellt es einen Kompromiß zwischen der Feststellung von Leistungsansprüchen und Ergebnisnutzung bei der Hilfe- und Pflegeplanung dar, der zwangsläufig zu Lasten des Nutzens für die individuelle Hilfe-/Pflegeplanung geht. Je stärker Fragen der sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe tangiert sind, desto ungenauer wird das Instrument. Wünschenswert wäre deshalb aus Sicht der Betroffenen ein einheitliches trägerübergreifendes Begutachtungsverfahren auf Grundlage der SPV.

Foto: Pflege in Seniorenheim: Die Verbesserungen für die Betroffenen verursachen neue Milliardenkosten

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