© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/09 12. Juni 2009

Die Bombe muß hochgehen
Lehren aus einer tristen Affäre: Alle Stasi-Akten zu Westvorgängen gehören auf den Tisch
Andreas Wild

Die „Affäre Kurras“, die  Enthüllung also, daß der Westberliner Polizist Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 während der Demonstrationen gegen den Besuch des persischen Schahs in Deutschland den Studenten Benno Ohnesorg erschoß, ein Agent des DDR-Staatssicherheitsdienstes war, ist eigentlich nur eine Pseudo-Affäre, gewissermaßen ein Zusatzfurunkel am Körper eines Patienten, der an Masern leidet. Nichts in der deutschen Nachkriegsgeschichte muß ihretwegen umgeschrieben werden, nichts wäre anders verlaufen, wenn man den Kurras rechtzeitig enttarnt hätte.

Immerhin, die „Affäre“ hat wieder einmal bewußt gemacht, daß die Stasi keineswegs eine exklusive Angelegenheit der DDR-Bewohner war, daß sie mittels ihrer Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) vielmehr tief in die Politik und auch in das Alltagsleben der Bundesrepublik Deutschland hineinreichte und beide Sphären streckenweise durchaus beeinflußte – und zwar negativ, zum Schaden des Landes. Im Grunde ist das, was die Ordner an „West-Verbindungen“ enthalten, viel wichtiger und faszinierender als alles, was je über DDR-Bewohner eingetragen wurde.

Im Bereich der DDR war die Stasi ein Zweig der Polizei. Ihre Büros und Verwahrhäuser präsentierten sich offen und unverfroren als Bestandteil des realsozialistischen Systems, und die meisten DDR-Bewohner gingen ohne weiteres davon aus, daß die ihnen übergeordneten Funktionsträger, vom Kaderleiter bis zum Kulturhausverwalter, selbstverständlich auch Mitarbeiter der „Organe“ waren und regelmäßig ihre Berichte ablieferten. Entsprechend fielen die meisten Berichte aus. Sie enthielten zu neunundneunzig Prozent nichts als öden Spitzelalltag ohne Esprit und Tiefenschärfe, trübseligsten Blockwart-Tratsch, der sich vielerorts gleichsam routinemäßig in Verhaftung und Zuchthausaufenthalt umsetzte.

Nicht so die Akten über Westvorgänge. Hier kamen von Anfang an die Profis und die Luxusinformanten zum Zuge, die Reisekader und Spitzelsnobs, von denen sich wohl jeder für einen zweiten James Bond im Auftrag Ihrer Majestät der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands hielt. Und sie verbuchten zum Teil ja tatsächlich gewaltige Erfolge.  Die ganze Ära Willy Brandt in Bonn war nicht zuletzt ein Produkt der Stasi. Diese verhinderte 1972 Brandts Abwahl per Mißtrauensvotum im Deutschen Bundestag, und sie plazierte mit Günter Guillaume einen Topspion und schlauen Einflußagenten in die unmittelbare Nähe des deutschen Bundeskanzlers.

Aber dem Zentralkomitee und der Stasi war bekanntlich nicht nur an Berichten aus den Zentren der Bonner Politik und aus der „Schlüsselwirtschaft“ gelegen, sondern auch an Berichten über kultururelle, politisierende Zirkel in der „BRD“, weil hier ihrer Meinung nach eine „wichtige Frontlinie des Friedenskampfs“ verlief. Um an derlei Berichte heranzukommen, scheute sie keinen, auch nicht den schmutzigsten, Trick. Dem Schriftsteller Uwe Johnson hatte sie zum Zwecke der Informationsbeschaffung über die „Gruppe 47“ extra eine Kundschafterin ins Ehebett geschmuggelt; der Mann ging darüber zugrunde.

Weit interessanter für die heutige Forschung als die aus dem Osten geschickten sind die vor Ort im Westen angeworbenen „Kundschafter“ und diejenigen, die ohne Bezahlung, einzig aus „purer Überzeugung“ (sprich: Dummheit), mitarbeiteten. Auf mindestens zwanzig hochrangige Figuren wird von Historikern das ehemalige Stasi-Mitarbeiter­team in den oberen Etagen von ARD und ZDF beziffert. Keine große Zeitung, kein Verlag, kein Schriftstellerverband ohne jemanden, der regelmäßig Berichte in die Normannenstraße schickte oder sich sonstwie nützlich machte.

Es ging ja nicht nur ums Berichteschreiben, sondern der „Westkader“ nahm die verschiedensten Aufträge wahr, besonders Aufträge der sogenannten Desinformation. Wer zum Beispiel in Verlagen untergebracht war, hatte dafür zu sorgen, daß Dissidenten oder Flüchtlinge, die Manuskripte anboten, bei den arglosen (oder auch weniger arglosen) Verlagschefs als „Nichtskönner“ beziehungsweise „Störenfriede“ schlechtgemacht wurden. Andererseits galt es, irgendwelchen Nullen, die Ulbricht und Honecker teuer waren, zu Publikationen in angesehenen Westverlagen zu verhelfen.

Mit Vorliebe spielte die Stasi gewissen Größen des westdeutschen Kulturbetriebs, so dem langjährigen Vorsitzenden des Verbands deutscher Schriftsteller (VS), Bernt Engelmann, biographische Unterlagen über bekannte Politiker aus CDU oder FDP oder anderes, oft raffiniert gefälschtes Material zu, damit diese einen propagandistischen Bestseller daraus stricken konnten. Auch der sowjetische KGB betätigte sich in dieser Richtung.

Erinnert sei an die vielen Versuche, russische Dissidenten in deutschen Medien anzuschwärzen und lächerlich zu machen. Victor Louis, ein Agent des sowjetischen Komitees für Staatssicherheit (KGB), lancierte in der Hamburger Illustrierten Stern von A bis Z erlogene oder raffiniert zusammengemixte Horrorgeschichten über den weltberühmten Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn; später plazierte er „exklusives Material“ über den verbannten Andrei Sacharow in der Bild-Zeitung, und es erschienen – wiederum im Stern – verharmlosende Berichte aus jenem Moskauer Irrenhaus, in das man den Ex-General und Bürgerrechtler Grigorenko verschleppt hatte.

Nur ein Bruchteil dessen, was Stasi und KGB in Westdeutschland angerichtet haben, ist bisher bekannt gemacht. Eine gigantische Zeitbombe tickt nach wie vor in den mehr als zwei Millionen Akten, die die Stasi einst über Personen und Institutionen in der Bundesrepublik angelegt hat und die zum guten Teil noch unbearbeitet bei der Birthler-Behörde in Berlin lagern. Viele Kräfte sind gegen ihre Offenlegung, in erster Linie natürlich die „betroffenen“ Mini-James-Bonds, aber auch Politiker von SPD und Bündnis 90/Grüne und selbst aus der CDU/CSU wie zum Beispiel Wolfgang Schäuble.

Das Interesse der Forschung hat aber eindeutig Vorrang. Man will nicht zuletzt künftig von bösen Überraschungen à la Kurras verschont bleiben. Die  Stasi-Akten müssen auf den Tisch der Öffentlichkeit; das gilt übrigens auch für einschlägige Akten des westdeutschen Verfassungsschutzes, deren behördliche Geheimhaltungsfrist abgelaufen ist. Die Bombe muß endlich entschärft werden, das heißt: Sie muß gezündet werden.

Foto:  Die in der Birthler-Behörde lagernden Stasi-Akten bergen noch jede Menge Sprengstoff

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