© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/09 12. Juni 2009

„Mißtrauen, Spaltung, Sprachverlust“
Erfahrungen aus den Endzeiten der Metaphysik: St. Jürgen zum achtzigsten Geburtstag
Kai Zirner

Morgens um acht Uhr fünfzehn an einem Herbsttag in den 1990er Jahren war es soweit: Der Meister kam in den völlig kahlen Übungsraum des häßlichen Betonbaus an der Senckenberganlage in Frankfurt am Main, direkt neben dem legendären Institut für Sozialforschung. Hier waren die Philosophen untergebracht, und hier betrat nun Jürgen Habermas den vollbesetzten Saal. Der Grund für den für Studenten der Philosophie so ungewöhnlich frühen Termin wurde sogleich klar: Um zwei Uhr, der Normalzeit des Tagesbeginns von Geisteswissenschaftlern, wäre hier kein Durchkommen mehr gewesen, denn auch jetzt war der größte Saal des Hauses schon voll. Die Veranstaltung war ein Proseminar, richtete sich also an „Studierende“ im  Grundstudium. Thematisch ging es um die Fortentwicklung von John Rawls Theorie der Gerechtigkeit, genauer: um die kontextualistische Wende des liberalen amerikanischen Philosophen.

Nun ist es in deutschen philosophischen Proseminaren Usus, einen vergleichsweise leichten und vor allem kurzen Text eines Klassikers zu lesen, um an diesem Beispiel in das philosophische Denken einzuführen und den Nachwuchs mit Grundfragen der Philosophiegeschichte vertraut zu machen. Beliebt sind relativ voraussetzungslos verstehbare Texte wie die Nikomachische Ethik des Aristoteles oder Descartes’ Meditationen über die erste Philosophie. Die speziellen Wendungen eines Gegenwartsphilosophen, von dem man neben den Seminartexten mindestens sein Hauptwerk „A Theory of Justice“ (1971) gelesen haben muß, sind didaktisch für Studienanfänger denkbar ungeeignet.

Doch schnell merkte man, daß Habermas jeder didaktische und pädagogische Ehrgeiz abging. Auch die vier Begleittutorien konnten dies nicht ausgleichen. So plätscherte das Seminargespräch im Wechsel zwischen dem Dozenten, einigen ganz wenigen Eingeweihten wie den Tutoren und vorlauten, aber ahnungslosen „Erstis“ dahin. Die Unterscheidung zwischen einer esoterischen, für die eigentlichen Jünger gedachten, und exoterischen Lehre für alle bei Platon kam einen in den Sinn. Der Akademie-Gründer hätte aber vielleicht sorgsamer korrigiert: Habermas gab auf ein und dasselbe Protokoll, das zweifach an ihn gelangt war, gleich zwei unterschiedliche Noten, was zugleich seine Abkehr von der egalitären Einheitsnote dokumentierte.

Die Habermas’sche Vorlesung verlief im Prinzip ähnlich wie sein Seminar, nur daß der rein akustisch schon schwer zu verstehende Vortrag durch häufige längere englische Zitate („Verstehen Sie eigentlich überhaupt Englisch?“) verkompliziert wurde. Selbst das berühmte Bonmot von Karl Marx bewahrheitete sich, wonach Geschichte zweimal aufgeführt werde, einmal als Tragödie und einmal als Farce. So wiederholte sich das berühmt-berüchtigte „Busenattentat“ auf Habermas’ Lehrer Adorno leider nicht in Gestalt entblößter Brüste, sondern in Form des „Go-In“ eines behelmten schwarz gekleideten Studenten, der sich aus irgendwelchen Protestgründen neben den dozierenden Habermas stellte, worauf dieser auf den Helm des Störers pochte. Konsequenzen gab es nur in Form von Gelächter, mehr Erfolg war diesem Protest nicht beschieden. Eher halb amüsant denn brisant, diese Szene.

Etwas mehr zur Sache ging es im gemeinsam mit Karl-Otto Apel veranstalteten Kolloquium. Apel stand immer im Schatten von Habermas, obwohl dieser zahlreiche Anleihen bei seinem Frankfurter Kollegen nahm und Apels Konzept der Transzendentalpragmatik durchaus anspruchsvoller als die Diskurstheorie à la Habermas ist. Im Kolloquium stritten sich nun „Jürgen“ und „Karl-Otto“ durchaus erregt und amüsant für das Auditorium, ohne daß hier auch nur eine der von den beiden aufgestellten Diskursregeln ansatzweise beachtet worden wäre.

Von Habermas kennt man solches Verhalten in wesentlich üblerer Form aus dem Positivismus-, Konservatismus‑, Metaphysik- und Historikerstreit, um nur die bekanntesten Kontroversen zu nennen, in denen sein Gift verspritzt wurde. Immer ging es dabei um aus der Luft gegriffene politische Verdächtigungen. Bekannt ist sein denunziatorisches Verhalten im Historikerstreit. Freilich gab es damals noch wackere Streiter, die sich Habermas, wohl zum letzten Mal, in den Weg stellten. So rüffelte Andreas Hillgruber die Unterwürfigkeit seiner Kollegen gegenüber dem Sozialphilosophen: „Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, wie sich einige Historiker-Kollegen, anstatt den in der Historie dilettierenden Agitator in die Schranken zu verweisen, ganz oder teilweise den ‘Argumenten’ von Habermas anschließen konnten. Erst dadurch ist der Habermas-Skandal zu einem ‘Historikerstreit’ geworden.“ Auch Michael Stürmer blies in dasselbe Horn: „Jürgen Habermas hat viel erreicht: Mißtrauen, Spaltungen, Sprachverlust. Ich gratuliere niemandem dazu.“

Weniger bekannt ist, daß Habermas 1988 in ähnlicher Weise seinen Kollegen Dieter Henrich, den Nestor der Idealismusforschung, als Philosophen der „Wende“ anging, der die metaphysische, gesellschaftlich verschleiernde Begleitmusik zu Helmut Kohls Regierung komponiert habe. Dabei hatte Habermas doch ein für allemal das Ende der Metaphysik dekretiert. Philosophie sollte fürderhin nur noch als Diskursethik und Vorwärtsverteidigung der Moderne betrieben werden. Daß aber selbst in diesem sehr begrenzten Rahmen eines nachmetaphysischen Rationalitätsoptimismus wesentliche Erkenntnisse der Frankfurter Schule über die Dialektik der Aufklärung verschüttet wurden, zeigt die Enge des Habermas’schen Ansatzes. Genauso seine Weigerung, andere als abstrakt-konsensuale Loyalitätsbindungen anzuerkennen.

Sein Plädoyer für einen ort- und zeitlosen Verfassungspatriotismus fand zwar Beifall selbst bei Historikern wie Habermas’ Sandkastenfreund Hans-Ulrich Wehler, die das Illusionäre dieser Konstruktion eigentlich erkennen müßten. Weltweit wird dieser aber in einem „plébiscite de tous les jours“ (Ernest Renan) für Nation, Ethnie, Stamm, Familie oder auch Religion als Primärbindungen dementiert. In einem hochartifiziellen Theoriegebäude spielen solche empirischen Einwände aber ebensowenig eine Rolle wie die philosophische Frage nach der Wahrheit, die nicht mehr durch die Einsicht in die Sache gefunden, sondern qua Zustimmung der Diskursteilnehmer konstituiert wird.

Zuletzt hat nun eine ganzes Heer von Theologen begeistert auf Habermas’ jüngste Äußerungen zur Religion reagiert. Galt zwar schon zuvor der von Habermas argwöhnisch beäugte gläubige Carl Schmitt den fortschrittlichen katholischen Theologen als Teufel, Habermas dagegen mindestens als heiliger St. Georg (Günter Maschke), so blieb doch trotz aller moralischen Korrektheit eine schmerzhafte Leerstelle durch Habermas’ „unmusikalisches Verhältnis zur Religion“ (Selbstauskunft) zu beklagen.

Nachdem Habermas, dem allgemeinen Post-Nine-Eleven-Trend folgend, großzügig religiös Überzeugte als Mitspieler im Diskurskarussell akzeptiert hat, fand die Begeisterung über diese Epiphanie keine Grenzen. Dabei hat Habermas, wie er jetzt noch einmal klarstellte, keineswegs die normativen Grundlagen unserer säkularen Verfassung à la Böckenförde in religiösen Voraussetzungen gesucht. Er hat nur den Zwang zur religiösen Kastration als Voraussetzung für einen rationalen herrschaftsfreien Diskurs etwas gelockert.

Damit ist Habermas endgültig seiner Rolle als bundesdeutscher Staatsphilosoph entwachsen, der mit feinem Näschen jedes kleinste Anzeichen konservativer Gegenwehr erschnüffelte: So wies er auch früh auf die zunehmende Verbreitung der JUNGEN FREIHEIT hin, wollte sich aber von ihr nicht inter­viewen lassen. Zu groß sei die Gefahr der Aufwertung: Also sprach der Theoretiker des herrschaftsfreien Diskurses. Auf seiner Agenda stehen nun globale Probleme wie das Verhältnis zwischen säkularer Weltgesellschaft und religiösen Residuen. Mit heimischen Scherereien sollte man ihn nicht mehr belästigen – zumal sein Erbe hierzulande bestens verwaltet wird.  Dafür hatte Habermas frühzeitig die Weichen gestellt. Von den Vätern der Frankfurter Schule hatte er sich das kompromißlose „Durchregieren“ in der Berufungs- und Wissenschaftspolitik abgeschaut. Verhinderten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno so manche mißliebige Berufung wie etwa die Golo Manns, so hat sich Habermas nicht nur ein Institut, sondern beinahe eine ganze bundesdeutsche Wissenschaftslandschaft nach seinem Gusto zusammengestellt, samt Verlag (Suhrkamp) und Hauszeitung (Die Zeit).

Zurück nach Frankfurt: Die hiesigen Philosophen sind nun, lange nach Habermas’ Emeritierung, ausgerechnet in das alte Verwaltungsgebäude der IG Farben umgezogen, den prächtigen Poel­zig-Bau im noblen Frankfurter West­end, der bis zur Wiedervereinigung als Hauptquartier des V. US-Corps diente. Mit umgezogen ist Habermas’ Geist: Das neue Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ ist ganz von den empirisch nicht geerdeten Wunschvorstellungen der Diskurstheorie bestimmt. Sprecher des staatlicherseits üppig alimentierten Forschungsverbundes ist der Habermas-Schüler Rainer Forst.

Foto: Jürgen Habermas bei einer Diskussion in der Hochschule für Philosophie München (2008): Vorwärtsverteidigung der Moderne

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