© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/09 12. Juni 2009

Medienkritik
Wirklich ist, was sich behaupten läßt
von Konrad Adam

Die Welt der Medien ist ein merkwürdiges Zwischenreich, banal und trügerisch zugleich. Schon der Begriff ist ein Euphemismus, tut er doch so, als ob das Medium, was Mittler heißt, eine bescheidene, dienende, vermittelnde Funktion wahrnähme, wenn es dem kleinen, einsamen Betrachter die große, weite Welt nach Hause liefert. So ist es aber nicht; die Medien dienen nicht, sie herrschen. Sie haben gemerkt, daß in der einen Welt, in der wir leben, nicht nur die Zahl der Ereignisse, über die zu berichten ist, sondern auch der Abstand, der sie vom interessierten Beobachter trennt, immer größer wird. Mittlerweile ist er so groß geworden, daß er den Medien erlaubt, den Zwischenraum, der sich da aufgetan hat und täglich immer weiter öffnet, mit allerlei selbsterdachten Inhalten, Deutungen und Urteilen anzufüllen.

Und diese Chance nutzen sie. Sie machen es so ähnlich wie die Hypo Real Estate, deren Name ja auch ein typischer Euphemismus ist, weil es die dinglichen Sicherheiten, mit denen diese Bank um Kunden warb, gar nicht gab; sie existierten nur auf dem Papier, genauso wie die Sensationen, die uns die Zeitungen verkaufen. Sie haben neben die erste eine zweite, mediale Wirklichkeit gesetzt, die von Ereignissen, Personen oder Dingen handelt, über die man uns alles mögliche erzählen kann, weil wir unfähig sind zu überprüfen, ob das, was uns da zu Ohren oder vor die Augen kommt, auch stimmt. Gefordert und gefördert wird nicht Wissen, sondern Glauben: Wer nichts versteht, muß alles glauben. Das machen sich die Medien zunutze. „Mundus vult decipi“ – die Welt will betrogen sein –, lautet ein altes Sprichwort, das sie mit der Aufforderung beantworten: „Ergo decipiatur“.

Der Euphemismus ist das klassische Verfahren, die Dinge anders, nämlich freundlicher zu benennen, als sie sind. In dieser Funktion ist der Euphemismus eine Frucht des Aberglaubens. Aus Angst, das Unglück zu berufen, spricht man nicht mehr vom Teufel, sondern von Luzifer oder vom Gottseibeiuns. Von dieser antiquierten Furcht haben sich die modernen Medien aber längst frei gemacht. Sie sind weder gläubig noch abergläubisch, und wenn überhaupt an irgend etwas, glauben sie nur noch an sich selbst. Statt den Teufel auf Abstand zu halten, machen sie sich einen Spaß daraus, ihn herbeizurufen, zumindest an die Wand zu malen. Denn der Teufel ist eine Sensation, und weil die Sensation das ist, was hohe Auflagen und gute Quoten verspricht, ist der Teufel den Medien ein hochwillkommener Gast – vorausgesetzt, er erschreckt, vergrault und belästigt die anderen.

Schreckensnachrichten über Kriege, Amokläufe und Erdbeben sind so lange erwünscht, wie sie bloße Mitteilungen bleiben, an denen man sich berauschen kann, weil sie für uns und unser Leben keine Folgen haben. Die Freiheit darf ruhig Opfer fordern, wenn diese Opfer irgendwo am Hindukusch gebracht werden müssen; ein Tsunami ist eine gute Nachricht, da er die weit entfernten Küsten Indochinas überspült; selbst Steuererhöhungen sind eine feine Sache, solange feststeht, daß sie die anderen belasten, nicht uns. Nur wenn das Unglück näherkommt und schließlich alle, also auch uns selbst betrifft, muß es verniedlicht oder schöngeredet werden. Dann heißt die Zwangsabgabe Bürgerversicherung, der Abfall wird zum Wertstoff geadelt, eine Milliardensubvention kommt als Umweltprämie daher, und statt von Rentenkürzung spricht man von einer Anhebung des Rentenalters. Der Zweck des Euphemismus ist die Täuschung.

Alle diese Versuche, den Leuten ein X für ein U vorzumachen, wären erfolglos ohne die tatkräftige Mitwirkung der Medien. Die Manipulation kann ja nur dann gelingen, wenn dem großen Manipulator viele kleine Manipulatoren zur Hand gehen und das nachkauen, was er ihnen vorgekaut hat. Presse und Presseabteilungen arbeiten eng und vertrauensvoll zusammen, weil sie einen gemeinsamen Gegner haben, den Kunden. „Jetzt ist es amtlich: Politik funktioniert!“ jubelten die Cheerleader der Familienpolitik, nachdem ihnen Frau von der Leyen ein paar getürkte Zahlen zugerufen hatte. Dank einer effektiven Politik könne sich Deutschland über mehr Geburten freuen, hieß es in Zeitungen, die auf sich hielten. Nichts davon stimmte, die Daten waren genauso falsch wie ihre Begründung. Aber sie waren in den Medien und damit in der Welt, und das zählte. „Wirklich ist, was sich messen läßt“, hatte Max Planck vor mehr als hundert Jahren gesagt. „Wirklich ist, was sich behaupten läßt“, sagen die modernen Massenmedien. Und haben recht.

Wie das Zusammenwirken funktioniert, läßt sich an einem kuriosen Fall studieren, der jüngst in Hessen spielte. Dort zeigte sich, wie man mit Hilfe einer politisch korrekten Kommunikationstechnik den Gegner entwaffnen und sich aus einer heiklen Lage befreien kann. Die frühere hessische Schulministerin Karin Wolff war öffentlich unter Beschuß geraten, nachdem sie ungeachtet der entmutigenden Erfahrungen, die man in anderen Bundesländern mit dem achtjährigen Gymnasium gemacht hatte, dies Modell auch in ihrem Land durchsetzen wollte. In dieser angespannten Situation überraschte sie die Öffentlichkeit mit dem Bekenntnis, seit Jahren mit einer anderen Frau glücklich zusammenzuleben. Kaum war das raus, hatte sie Ruhe, nicht nur im Landtag, sondern auch in den Medien. Mit dem Geständnis, lesbisch zu sein, hatte sie der Opposition den Wind aus den Segeln genommen; seither wurde sie von den Grünen als eine der Ihren betrachtet, und auch die SPD hielt still, weil Karin Wolff nun endlich mit Klaus Wowereit gleichgezogen hatte. Die Homosexualität ist zu einem politischen Talisman geworden, der verläßlicher beschützt als jedes Amulett.

Was in solchen Fällen zwischen den Medien und der Politik abläuft, ist ein gewöhnlicher Handel nach dem uralten Grundsatz „Do ut des“ (Ich gebe, damit du gibst). Getauscht werden Geständnisse gegen Aufmerksamkeit, Informationen gegen Publizität, Vertrauen gegen Eitelkeit, Einblicke in die Intimsphäre gegen wohlwollende oder verständnisvolle Kommentare: Dieses Tauschverhältnis ist die Basis aller professionellen Öffentlichkeitsarbeit. Der Journalist wird eingebunden, er degeneriert zum Zechkumpan, der seinem Mitzecher, dem Spitzenpolitiker, auch schon mal beim Duschen oder sonst einem höchst persönlichen Geschäft zusehen darf, vorausgesetzt, er berichtet positiv, also wohlwollend und freundlich und bringt als Analyse, Kommentar oder eigene Erkenntnis das in Umlauf, was ihm unter dem Siegel der Vertraulichkeit zugesteckt worden ist.

Wie bei jedem guten Handel kommen auch hier beide Seiten auf ihre Kosten. Die einen liefern die Informationen und bekommen Publizität, die anderen sorgen für Publizität und erhalten die dazu passenden Informationen. Gegenseitige Abhängigkeit garantiert freundliche Behandlung, und zwar auf beiden Seiten. Politiker wissen, daß man die Hand, die einem Futter reicht, nicht beißt; und Journalisten wissen das natürlich auch. Wer geschickt ist, bezeichnet das, was er an irgendeine große Glocke hängen will, als „exklusiv“; dann kann er sicher sein, es spätestens am nächsten Morgen groß aufgemacht in irgendeiner Zeitung wiederzufinden. Nur einer kommt bei diesem Handel regelmäßig zu kurz: Das ist der Bürger, zu dessen Wohl der ganze Handel angeblich betrieben wird. Denn die sichere, verläßliche und folgenreiche Information fällt bei dieser Art von Tauschhandel unter den Tisch.

Franklin D. Roosevelt hatte sich mit seinen legendären Kamingesprächen direkt an die Bürger gewandt, um sie für seine Politik zu gewinnen. Ludwig Erhard machte es ähnlich, als er für sein Modell der sozialen Marktwirtschaft in Büchern, Aufsätzen und Reden um Verständnis warb. Das ist vorbei. Helmut Schmidt dürfte der letzte deutsche Kanzler gewesen sein, der jedenfalls versucht hat, seiner Partei und den Bürgern draußen im Lande seine Politik zu erklären. Bei seinen Nachfolgern war das anders; sie sind durch die Partei geprägt und fühlen sich vor allem ihr verantwortlich, nicht dem Volk, dem großen Lümmel. Jeder von ihnen hätte sagen können, was der arme Fred Sinowatz (SPÖ) von sich gab, als man ihm nahelegte, sein Amt als österreichischer Regierungschef ernst zu nehmen und endlich einmal durchzugreifen: „Ohne die Partei bin ich doch nichts.“

Die Partei, nicht das Amt sei die Basis der Macht, hat Helmut Kohl oft und gern gesagt. Auch das ist allerdings nur so lange richtig, wie die Medien mitspielen. Kohl hat das gewußt, als er das Privatfernsehen gegen Bedenken und Widerstände großzog, und Gerhard Schröder wußte das auch, als er seine Erfolge als Regierungschef davon abhängig machte, daß Bild, BamS und die Glotze, diese drei, bei der Stange blieben. Wie recht er damit hatte, wurde in dem Augenblick offenbar, als ihn die Trias verließ. Solange sie zu ihm gehalten hatte, konnte er seine Basta-Politik auch ohne oder sogar gegen die Partei durchsetzen; als ihm die Medien untreu wurden, war es damit vorbei. Der Medienkanzler war gescheitert, zunächst als Parteivorsitzender, dann auch als Kanzler. Schröder galt als ein Meister der Kommunikation; aber was hilft die beste Kommunikationstechnik, wenn sich die Medien verweigern?

Mittlerweile werden die Schlachten innerhalb des Landes nach denselben Regeln geschlagen wie seinerzeit im Irak. Embedded journalism, Berichterstattung im Gefolge, auf Empfehlung oder mit Unterstützung eines kommandierenden Generals, wird auch im Inneren üblich. Der Köder, mit dem man die Pressevertreter an den Haken kriegt, sind Augenzeugen-, Exklusiv- oder Hintergrundberichte. Wer den journalistischen Troß bedient, ihm schöne Augen macht, ihn im Flugzeug mitreisen läßt und ihm vielleicht auch noch die Menüfolge beim abendlichen Gipfeltreffen verrät, hat gewonnen. Auch ohne die Medien im Stil von Putin oder Berlusconi an die Kandare zu nehmen, kann er sicher sein, daß sie nur über das berichten, was er ihnen ins Mikrophon gesprochen, in den Block diktiert oder sonstwie zugeschoben hat. Eine Hand wäscht die andere, auch hier.

Das massenhafte Angebot von Informationen, die keine sind, hat selbstverständlich seinen Preis. „Dies ist keine Information der Bundesregierung“, hieß es neulich auf einem Plakat, mit dem die Kassenärztliche Vereinigung den Gesundheitsfonds, das kranke Herzstück von Ulla Schmidts gründlich mißratener Reform, zerpflückte. Ähnlich wie die Werbung scheint mittlerweile auch die Information mit der Lüge austauschbar geworden zu sein. Mietenlüge, Rentenlüge, Steuerlüge: Wir haben das alles hinter uns und sind entsprechend mißtrauisch geworden – mißtrauisch aber leider nur gegen die Erfinder, nicht auch gegen die Verbreiter dieser Lügen. Das wäre nachzuholen, denn die langen Beine, auf denen sie durchs Land laufen und den Leuten die Köpfe verdrehen, bekommen die Lügen ja erst dadurch, daß sie von den Medien nachgeplappert und weitergetragen werden.

Thomas Jefferson, der dritte amerikanische Präsident, hat seinerzeit versichert, lieber in einem Land ohne Regierung als in einer Gesellschaft ohne Zeitungen leben zu wollen. Was würde er heute angesichts der Rolle sagen, die der Publizistik zugewachsen ist? Würde er nach der Regierung auch auf die Medien verzichten wollen, auf Zeitungen und Fernsehen, aufs Telefon, aufs Internet und vieles mehr? Und sich statt dessen auf die letzte unabhängige Instanz zurückziehen, die uns als Bürgern immerhin geblieben ist: aufs eigene Urteilsvermögen? An das war ja schon einmal appelliert worden, zur Zeit der Aufklärung, als Kant den Leuten Mut machte, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Wäre es nicht an der Zeit, diesen Appell zu wiederholen und einen neuen Versuch mit der Aufklärung zu machen – Aufklärung allerdings nicht mit den Medien, sondern über sie, vielleicht sogar gegen sie?

 

Dr. Konrad Adam, 67, ist Journalist und Buchautor. Von 1979 bis 2000 war er Feuilletonredakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, danach bis 2007 Chefkorrespondent der „Welt“. Unlängst erschien sein neuestes Buch „Der kurze Traum vom ewigen Leben. Eine Gesellschaft ohne Zukunft “ im Manuscriptum-Verlag, Leipzig 2009.

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