© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/09 19. Juni 2009

Der Moment des Umschlags
Vorzeichen: Langsam, aber sicher verlieren die langmütigen Deutschen die Geduld
Karlheinz Weissmann

Was haben ein Buch von Jürgen Elsässer, ein ganzseitiger Artikel von Peter Sloterdijk in der FAZ, die Debatte um die Stasi-Mitarbeit des Westberliner Polizisten Karl-Heinz Kurras und die Forderung eines SPD-Hinterbänklers nach Einführung der Wahlpflicht gemeinsam?

Auf den ersten Blick: gar nichts. Wenn man aber das eine wie das andere, das dritte und das vierte symptomatisch nimmt, kann man sie als Hinweise darauf betrachten, daß sich etwas ändert, noch nicht im Bereich der Machtverhältnisse, aber im Bereich der „Mentalität“, jenes schwer bestimmbaren Etwas, das Denken und Fühlen, Einstellung und Handlungspräferenz fast unmerklich, aber nachhaltig bestimmt.

Dann erhält die Bekehrung eines „Anti-Deutschen“ zu Preußen und zum Nationalstaat als letzten Bollwerken gegen Globalisierung und Plutonomie einen anderen Stellenwert, dann verliert die Sympathie des philosophischen Meisterdenkers Sloterdijk für den „fiskalischen Bürgerkrieg“ der Produktiven gegen die Unproduktiven etwas von ihrem Unernst und erscheint die Hysterie der Veteranen von ’68 über die Entdeckung der wahren Hintergründe des Todes von Benno Ohnesorg kaum noch interessant, aber der fehlende Widerhall ihrer Klagen ist bezeichnend für den Rückgang ihres Einflusses. Und der Vorschlag von Jörn Thiessen, die Wahlverweigerung mit Geldbußen zu bestrafen, wirkt wie ein Verzweiflungsausbruch der Politischen Klasse, die nicht genau weiß, was sie mehr fürchten soll: daß ihr die Legitimation durch Abstimmung oder Nichtabstimmung verlorengeht.

Alle diese Vorgänge zeigen, wie weit die kulturelle Hegemonie der Linken schon erodiert ist: Elsässers Plädoyer, insofern es die Tabuierung des deutschen Sonderwegs aufhebt und sich Gedankengängen nähert, die von Ferne an Fichte und Sombart erinnern; Sloterdijk, weil er die Diktatur des Sozialen in Frage stellt, den Wahn, daß staatliche Umverteilung grundsätzlich gerecht ist und diejenigen, die etwas leisten, verpflichtet, auch denen, die nichts leisten wollen, zu einer komfortablen Existenz zu verhelfen; die Kurras-Debatte, da sie den „Gründungsmythos“ der neuen Bundesrepublik in Frage stellt; und der Vorstoß von Thiessen, weil er zeigt, auf welch schwankendem Boden deren Konsens steht. Die Wendungen, mit denen man uns letztens eine harmonische Ergänzung von „1949“ durch „1968“ weismachen wollte, das Hand-in-Hand der Väter des Grundgesetzes und der Apo, konnte nur eine äußerst brüchige „Identität“ schaffen.

Sicher haben Elsässer und Sloterdijk noch nicht die Seiten gewechselt, sicher wird das Interesse am Tod Ohnesorgs bald von etwas anderem abgelöst, und sicher wird Thiessens Empfehlung demnächst vergessen sein. Aber dessen Beunruhigung ist eine gewisse Sensibilität nicht zu bestreiten. Wahrscheinlich merkt der eine oder andere in Berlin (und anderswo), daß der ideologische Überbau, den man in den beiden letzten Jahrzehnten installiert hat, allmählich an Überzeugungskraft verliert. Es schwindet der „Legitimitätsglaube“ (Max Weber), und jede Umfrage zu grundsätzlichen Fragen – von der Qualität der Führungsschicht über den EU-Beitritt der Türkei und den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan bis zum Bildungsverfall – zeigt, daß die Deutschen, dieses langmütige Volk, allmählich die Geduld verlieren. Und dem ist offenbar weder mit Appellen an Gemeinsinn und Verpflichtung zum Ehrenamt noch mit aufgeklärtem Patriotismus, der Mobilisierung gegen „Rechts“ oder vermehrten Privilegien für Integrationsbereite beizukommen.

„Die historischen Tatsachen sind wesentlich psychologische Tatsachen“, hat einer der Väter der Mentalitätsgeschichte, Marc Bloch, gesagt und gemeint, daß die Vorstellungen und Empfindungen eines Kollektivs ungleich besser geeignet sind, dessen Verhalten zu erklären, als ein Rückgriff auf Regententabellen, Wirtschaftsdaten oder die Ergebnisse von Kriegszügen.

Sicher liegt in dieser Feststellung eine Übertreibung, aber doch eine hilfreiche, denn sie rückt in den Blick, daß es etwas Fluides, Stimmungsmäßiges, im nachhinein nur schwer Faßbares gibt, das doch für die Atmosphäre einer Zeit, vor allem einer Zeit der Krise und des Umbruchs, Bedeutung gewinnen kann und sich zuletzt auch politisch auswirkt.

Man hat dem Theatererfolg von Beaumarchais „Hochzeit des Figaro“ eine seismographische Bedeutung in bezug auf die Französische Revolution zugesprochen, und ähnliches wurde für den Triumph von Strawinskys „Sacré du Printemps“ am Vorabend des Ersten Weltkriegs behauptet. Hier wie dort handelte es sich um Vorgänge scheinbar weit entfernt vom Feld des Politischen, aber der Sieg des Kammerdieners über seinen adligen Herrn, den die Aristokratie im Publikum bejubelte, und die heidnische Feier des „Frühlingsopfers“ der Jugend, die gerade wegen des Archaischen und der Todestrunkenheit beeindruckte, erschienen später wie Vorzeichen dessen, was folgen würde.

Die Konservativen sind auf den Wandel der Mentalität angewiesen, da ihre eigene Kraft viel zu gering ist, um den übermächtigen Gegner in direkter Konfrontation zu stellen. Es gibt auf dieser Seite weder Parteien noch Einflußverbände, weder Lobbygruppen noch Zugang zu Medien, die in die Auseinandersetzung eingreifen könnten. Es gibt wohl überlegene Einsicht und stärkeren Realitätssinn. Aber das genügt nicht. Deshalb muß man die Zersetzung des feindlichen Lagers abwarten, die Dissidenz führender Köpfe und den Verfall der breiteren Gefolgschaft. Erst dann wird es möglich sein, aktiv zu handeln.

Sollte das gelingen, steht allerdings noch eine ernüchternde Einsicht bevor. Der Soziologe Hans Freyer, ein Konservativer, ohne Frage, hat darauf hingewiesen, „daß der Wille, eine in Unordnung geratene Struktur in alter Art wiederherzustellen, dem neuen Gebilde viel von diesem Willen und wenig von der alten Art mitteilen wird“. Das heißt, es gibt keine Rückkehr zum Status quo ante, keine heile Welt, kein Hohenzollernreich und keinen Brüning als Kanzler, keine Adenauerdeutschen und keine fromme bäuerliche Großfamilie als soziale Norm.

Das Kommende wird anders sein, und man wird, um es zu schaffen, auch auf die zurückgreifen müssen, die auf der anderen Seite standen, so wie man auch den Opportunismus der allzu vielen in Rechnung zu stellen hat. Aber das sind Probleme von morgen, heute betreffen sie uns noch nicht. Heute sollten wir unsere Aufmerksamkeit auf das konzentrieren, was vor sich geht, um gefaßt zu sein, wenn der Moment des Umschlags kommt, falls der Moment des Umschlags kommt.

Foto: Aufgehende Morgensonne: Um das Kommende zu schaffen, wird man auch auf die zurückgreifen müssen, die auf der anderen Seite standen

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