© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/09 19. Juni 2009

Revolution aus der Insolvenz
Ilko-Sascha Kowalczuk über das Ende der DDR als logische Folge des abgewirtschafteten Systems
Adam Winnicki

Zum 20. Jahrestag der gesellschaftlich-politischen Umwälzungen in der DDR und in anderen Staaten des Warschauer Paktes präsentiert der im Jahr 1967 in Ost-Berlin geborene Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk die Publikation unter dem passenden Titel „Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR“. Der Verfasser diverser Arbeiten über die DDR gehörte von 1995 bis 1998 als sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ an. In den Jahren zwischen 1998 bis 2000 arbeitete Kowalczuk in der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Derzeit ist er auch als assoziierter Wissenschaftler bei der Robert-Havemann-Gesellschaft in Berlin tätig. 

Im „Endspiel“ fokussiert der Autor  die zunehmenden Krisenerscheinungen und Mißstände in der Endphase des SED-Systems, die maßgeblich den gesellschaftlichen Umbruch in der DDR eingeleitet haben. Es handelt sich also um eine rein interne Analyse des DDR-Staates und seiner Gesellschaft. Die Betrachtungen erfolgen auf drei zeitlichen Ebenen. Zuerst wird „ein breites Panorama der DDR-Gesellschaft gezeichnet“, das stellenweise sogar etwas zu ausführlich erscheint. Den außenpolitischen Hintergrund bildet Michail Gorbatschow mit seinen politischen Reformen in der UdSSR – von der „Gerontokratie“ zu „Glasnost“ und „Perestroika“. Nota bene, Kowalczuk beäugt Gorbatschow recht kritisch und sieht in seiner neuen Politik lediglich eine Antwort auf den sozialpolitischen Druck der polnischen Opposition unter der Fahne der Solidarność-Bewegung seit den Danziger Ereignissen auf der Lenin-Werft im August 1980.

Der Historiker zeigt ganz treffend und ohne jegliche Umschweife oder Beschönigungen den politischen Konsens aller DDR-Parteien auf. Die „Blockparteien“ wie CDU, LDPD, DBD haben bis 1989 die Mauer politisch verteidigt und die SED-Politik als alternativlos gepriesen. Dagegen ist seine Annahme, daß der „Antifaschismus“ als eine Art „Ersatzpatriotismus“ fungiert habe, nicht gänzlich richtig. Der Patriotismus bildete in der DDR wie auch in den übrigen Ostblockstaaten eine wichtige Stütze des politischen Systems nach innen und war ebenfalls für die national-politische Legitimation auf der Weltarena notwendig. In den 1980er Jahren setzte die Führung der DDR gerade deshalb vermehrt auf die Pflege des preußischen Kulturerbes und seiner Traditionen (Filme, Theaterstücke, Fernsehsendungen, Vorträge, Ausstellungen und Zeitungsartikel über Preußen überschwemmten den sozialistischen Arbeiterstaat). Das Verhalten sollte als Beweis für die Prozesse der historischen Kontinuität zwischen der deutschen Geschichte und der berechtigten Nachfolgexistenz des weiterentwickelten DDR-Staates dienen.

Dem Leser wird im Laufe der Lektüre die gesellschaftliche Anatomie und Funktionsweise des SED-Staates mit diversen Organisationen von der FDJ beginnend, über LPG bis zu der NVA und dem MfS umfangreich erläutert. Und auch eine so „streng geheime Einrichtung“ für Wirtschaftsspionage wie die „KoKo“ („Bereich Kommerzielle Koordinierung“) bleibt der Leserschaft nicht vorenthalten. Die Auswirkungen der KSZE-Schlußakte auf den Alltag in der DDR, das Wirken der Opposition, die Einflüsse der polnischen Solidarność, das zunehmend brisante Verhältnis zur UdSSR, Schilderungen über die marode Infrastruktur und staatliche Sozialpolitik mit ihren Vor- und Nachteilen runden aufklärend den Inhalt des ersten Buchabschnitts ab.       

Im zweiten Abschnitt erfährt man mit großer Genauigkeit über die sich in der DDR zunehmend überschlagenden und unerwarteten Ereignisse in der Zeitspanne vom Frühjahr 1989 bis zur Leipziger Massendemonstration am 9. Oktober 1989. Von der SED-Führung initiierte Unterwanderungsversuche der Opposition, verzweifelte innenpolitische Maßnahmen zur Erhaltung der DDR und schließlich die Bildung der neuen Opposition, die auf der Grundlage der zunehmenden Unzufriedenheit im Volk über die Lage im Staat basierte, finden beim Verfasser ihre gebührende historische Berücksichtigung. Kowal­czuk schafft es, die unaufhaltsamen Entwicklungen des politischen Umbruchs wiederzubeleben, dadurch können die Ereignisse und die Dramatik der Situation sehr gut nachempfunden werden. Die unumkehrbare Hoffnungslosigkeit bezüglich einer Erneuerung des SED-Systems und die in den Reihen der progressiven DDR-Bürger aufkeimende Hoffnung auf politische Veränderungen schildert der Autor beeindruckend minutiös.

Ein enorm wichtiger Diskussionspunkt, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, kommt zwischen den Zeilen zum Vorschein: Nicht unbedingt die Beseitigung des „real existierenden Sozialismus“ mit der Politik der „sozialen Gerechtigkeit“ und ihren gesellschaftlichen Vorzügen war das anvisierte Ziel vieler Oppositioneller, sondern lediglich die Abschaffung der SED-Politpraktiken im DDR-Staat.

Kowalczuk zeichnet die bereits im rasanten Tempo ablaufende politische Entwicklung zwischen Honeckers Rücktritt und den demokratischen Wahlen vom 18. März 1990 nach. Er rückt dabei nicht den Mauerfall am 9. November, sondern den Demokratisierungsprozeß in den Vordergrund, ohne die Dramatik der Zeit und des Schauplatzes an Mauer und Grenze auszublenden. Kowalczuk gelingt im letzten Teil seiner Arbeit eine sehr temporeiche und spannende Chronik der politischen Interaktion zwischen der Opposition und der SED mit ihren Sicherheitsapparat. Jedoch: „Dieses Buch thematisiert nicht die Vereinigungsgeschichte, Vereinigungskrise, die Vereinigungsfehler, das Vereinigungsglück und anderes“, so der Autor selbst. Kowalczuk geht anders vor. Die wichtigsten Höhepunkte seiner Publikation sind der 9. Oktober, 9. November 1989 wie auch der 18. März 1990 aus der innergesellschaftlichen Perspektive der eingeleiteten Veränderungen. Als Ausgangsbasis werden die achtziger Jahre in der DDR schwerpunktmäßig behandelt, also auch zugleich die letzte Dekade des „real existierenden Sozialismus“ in Europa.

Die „große Politik“ und die für die DDR relevanten politischen Entwicklungen im Ostblock der 1980er Jahre werden jedoch nur sekundär betrachtet. Das kann einen gewissen Nachteil für das objektive Verständnis der Ereignisse in der DDR mit sich bringen, stellt jedoch für sachkundige Leser, die die politische Gesamtlage in Europa und der übrigen Welt in der Zeit von 1980 bis 1991 kennen, kein Problem dar. 

Summa summarum liegt ein spannend aufgearbeitetes Kalendarium der radikalen sozial-politischen Veränderungen vor. Daher pocht der Autor auf den letzten Seiten seiner Ausführungen zu Recht auf die Verwendung des Begriffs „Revolution“, der die stürmische und doch ohne Blutvergießen ablaufende politische Wende in der DDR trefflich bezeichnet.     

Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. Verlag C.H. Beck, München 2009, gebunden, 602 Seiten, 24,90 Euro

Foto: „Konsum“-Geschäft in Gera 1989 offenbart wirtschaftliche und gesellschaftliche Trostlosigkeit in der DDR: Unumkehrbare Hoffnungslosigkeit bezüglich einer Erneuerung des SED-Systems

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