© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/09 19. Juni 2009

Die Alliierten wollten die Brennergrenze aufgeben
Vielleicht hatte die italo-amerikanische Lobby entscheidenden Einfluß darauf, daß Südtirol nach 1945 nicht wieder zu Österreich kam
Martin Schmidt

Der britische Historiker Niall Ferguson tritt für eine virtuelle Geschichtsbetrachtung ein, die neben der Darstellung des wirklich Geschehenen ihren Wert besitze. In seinem Werk „Virtuelle Geschichte. Historische Alternativen im 20. Jahrhundert“ legt der in Oxford lehrende Professor für Neuere Geschichte dar, welcher Erkenntniswert darin liegt, sich auch mit den möglichen, von den jeweiligen Zeitgenossen als realistisch betrachteten, letztlich aber verpaßten Geschichtsverläufen zu beschäftigen. Zum Andreas-Hofer-Jahr 2009 bietet sich die Gelegenheit, über alternative Geschichtsverläufe in Südtirol und Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachzudenken. Die Entwicklung wäre zweifellos eine andere gewesen, wenn sich in den Jahren 1941 bis 1946 andere Vorstellungen der alliierten Siegermächte durchgesetzt hätten.

Es war nämlich jahrelang keineswegs klar, daß das nach dem Ersten Weltkrieg ohne stichhaltige ethnokulturelle und historische Gründe Italien zugeschlagene Südtirol nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches im Mai 1945 weiterhin im Besitz von Hitlers einstigem faschistischen Bündnispartner blieb. Österreich galt als von Hitlerdeutschland besetztes, wieder zu befreiendes Land, das es eher zu stärken denn zu schwächen gelte. In einer Studie des britischen Außenministeriums vom August 1941 wurde deshalb die Möglichkeit einer Donaukonföderation zusammen mit den anderen k.u.k.- Nachfolgestaaten erwogen, während das US-Außenministerium Ende desselben Jahres über eine staatliche Verbindung zwischen Österreich, Ungarn und Italien nachdachte. Die Exilregierung unter Charles de Gaulle liebäugelte ab 1943 mit einem Zusammenschluß der französischen Besatzungszone Österreichs mit Baden, Württemberg, Bayern und Südtirol zu einem neuen süddeutschen Staatsgebilde – nach dem Sieg. Diesen Plänen, die westalliierten Einflußzonen in Ostmitteleuropa und Südosteuropa vorzuschieben, entgegnete die Sowjetführung mit der Idee eines mitteleuropäischen Staatenbundes oder einer Donaukonföderation. Stalin sprach sich bereits am 16. Dezember 1941 gegenüber dem britischen Außenminister Anthony Eden dafür aus, Österreich als „unabhängigen“ Staat wiederherzustellen. Ebenso wie der binnendeutsche Raum sollte auch Österreich im Zuge einer längerfristigen Revolutionsstrategie für den kommunistischen Machtbereich gewonnen werden.

Tatsächlich setzte sich der Kreml in der Österreich-Frage weitgehend gegen die Westalliierten durch, deren Positionen durch die von Unwissenheit, Nachgiebigkeit und Naivität geprägte Politik der US-Regierung unter Präsident Franklin D. Roosevelt geschwächt wurden. So kam man bei einer Außenministerbesprechung Ende Oktober 1943 in Moskau überein, Österreich in den Grenzen von 1937 wiederherzustellen, und verkündete hierzu am 1. November die sogenannte „Moskauer Deklaration“. Allerdings sahen vor allem die Briten in dieser Erklärung noch keine endgültige Festlegung der österreichischen Grenzen, zumal abzuwarten war, wie die Bevölkerung des Alpenlandes auf die nach der Landung in Sizilien im Juli 1943 und der Kapitulation Italiens im September desselben Jahres immer näherrückenden alliierten Truppen reagieren würde.

Noch im Februar 1944 prüfte das Londoner Außenministerium die Möglichkeit, einer künftigen Republik Österreich auch Südtirol und das nach 1918 ebenfalls von Italien besetzte Kanaltal anzugliedern. Der für die eigenen Nachkriegspläne zuständige britische Ministerausschuß empfahl am 18. Mai 1944, zunächst vom Österreich in den 1937er Grenzen auszugehen, sich eine spätere Vergrößerung um Südtirol und das Kanaltal aber ausdrücklich vorzubehalten. In Washington stand der die Brennergrenze ablehnende Staatssekretär Sumner Welles in einer Sachverständigenkommission einer italienfreundlichen Lobby gegenüber.

Zunächst konnte sich Welles durchsetzen, und die im Rahmen des Außenministeriums gebildete Post-War Commission on Austria hielt am 8. Juni 1944 in einer Denkschrift fest, daß die Provinz Bozen nach Kriegsende an Österreich zurückgegeben werden solle. Die Region sei von ihrer Geschichte, Kultur und Tradition her österreichisch und besitze im Rahmen eines zu stärkenden Österreichs bessere Aufbauperspektiven, verlautete damals aus Washington. Das Inter-Divisional Committee on Germany schloß sich dem ebenso an wie das Inter-Divisional Committee on Italy. Selbst Präsident Roosevelt stimmte dieser Linie noch am 27. Juni 1944 zu.

Letztlich lief es dann aber beim Pariser Abkommen vom 5. September 1946 auf eine Autonomie im Rahmen der neugegründeten Region Trentino-Südtirol als Teil der Republik Italien hinaus. Die feierlich zugesicherte volle sprachlich-kulturelle Gleichberechtigung der angestammten deutschen Bevölkerung gegenüber den in großer Zahl zugewanderten Italienern wurde dann allerdings massiv untergraben und eine rigorose Italienisierungspolitik in Gang gesetzt. Erst das durch den zunehmenden Widerstand der Südtiroler erzwungene Autonomie-„Paket“ von 1969 beendete die konfliktreiche Zeit, ohne das Grundübel der Annexion zu beseitigen.

Foto: Transport deutscher Kriegsgefangener im Mai 1945 über den Brenner nach Norden: Künftiges Österreich durch Südtirol stärken

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