© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/09 19. Juni 2009

Heimat – Teil 1
Welt ist immer ein konkreter Ort
Rainer Gebhardt

Heimat also. Der Begriff hat Luxuscharakter. Manchen bezeichnet er nur noch ein diffuses Verlustgefühl, mit dem wir uns gegen die Zumutungen wirtschaftlich verordneten Nomadentums stemmen. Dennoch, wo von Heimat die Rede ist, ist immer auch das Recht auf das Eigene und Eigensinnige gemeint. Das macht den Begriff sperrig, verleiht ihm subversiven Gehalt. Weshalb er in kein System paßt, auch nicht in ein utopisches. Ernst Blochs Diktum, Heimat sei der Ort, an dem noch keiner war, ist nicht plausibel. Das Gegenteil ist der Fall: Heimat ist der Ort, an dem wir zuerst waren. Das macht ihn zum subjektiven Machtraum, entzieht ihn soziologischen wie psychologischen Totalerklärungen genauso wie politischen Zugriffen. Selbst unter den Bedingungen globaler Arbeitsteilung wird seine lebensweltliche Selbstverständlichkeit noch nicht verhandelt.

2 – Was mit Heimat gemeint ist, scheint es, hängt davon ab, was einer dort zu finden hofft. Mal ist sie ein Gefühl, mal Gegenpol zur Welt, dann wieder diffuser Sehnsuchtsort, überliefertes Traditionsgefüge, Geborgenheitsraum, behauste Unbehaustheit, Wohnen im Eigentlichen, nur scheinbar Eigenes oder – gewendet – nichts was enteignet werden kann, verklärte Zeit, gekerbter Grund im glatten Geschiebe der Welt, Projektionsfläche für Verluste, Ort im Kosmos und Ort in der Kindheit, Migrantentraum, transzendentales Obdach und konkretes Heim zugleich.

Unabhängig davon enthält der Begriff einen unzerstörbar ontologischen Kern, der jenseits moderner Selbstfindungsprozeduren konstitutiv für unser Weltverhältnis ist. Mircea Eliade hat Heimat den Gründungsort der Welt genannt; was Geborgenheit in einer Gemeinschaft in einem konkreten Raum voraussetzt. Von hier aus, so Eliade, führte der Weg zu den Göttern, zu den Lebenden und den Toten. Wurde aus dem Geborgensein an diesem Ort ein Recht auf ihn abgeleitet, so war es verbrieft in der Biographie des einzelnen und der Geschichte der Gemeinschaft.

So zu denken, ist freilich nicht mehr diskursfähig. Erst recht nicht, wenn es um die Vertreibungsgeschichte der Deutschen geht. Im politisch korrekten Diskurs verflüchtigt sich der „mysteriöse Ort“ im Universellen, die ganze Welt wird Heimat, der Bezug zu ihr nur dank Flexibilität und Mobilität, Ortlosigkeit und Gleichzeitigkeit möglich. Über den Verlust an Nähe und Bindung soll ein scheinbarer Gewinn an Freiheit trösten. Deren Flatrate sind Multikulturalismus und Urbanitätsspektakel.

3 – Wir Deutschen, heißt es, haben ein besonderes Verhältnis zur Heimat. Nicht nur gibt es den Begriff mit seinen semantischen und psychologischen Bezügen, wie wir sie herstellen, in anderen Ländern so nicht – spätestens mit dem Verlust der deutschen Ostgebiete hat er eine Schicksalsdimension. Sie umgreift neben der physischen Vertreibung die geistige und kulturelle Enteignung des einmal als Heimat erlebten Raumes. Diese Löschung kultureller Orientierungsmarken aus dem nationalen Gedächtnis gehört zu den gründlichsten Abbruchunternehmen in der jüngeren deutschen Geschichte. Daß die Trauer darüber bis heute ein Kampf der Vertriebenen um ihre Erinnerung ist, wird nicht mehr nur vom linken Establishment als revanchistisch abgetan. Im Wiedergutmachungsgerede darf ausgerechnet der humane Kern des Begriffs, das subjektiv Erlebte, kein Argument sein. Als politische Größe fallen die Vertriebenen heute kaum ins Gewicht. Ihr Sehnsuchtsort bleibt dennoch verdächtig. Heimat im Osten – das ist der Negativpol einer sich weltoffen und sühnebereit gebenden Gesellschaft.

4 – In der Vorwende gerade noch feuilletontauglich, bot das Thema Heimat nach der Wiedervereinigung genügend Brisanz für Diskussionen. Denn mit der DDR fiel dem deutschen Westen ein Territorium zu, das wie die Gebiete östlich der Oder im öffentlichen Bewußtsein längst aufgegeben war. Es wurde aber nicht diskutiert. Auch deshalb kann man sich 20 Jahre nach dem Mauerfall noch immer nicht darauf einigen, welcher Stellenwert der DDR als einem Phänomen zukommt, das eben nicht nur politisches Gebilde, sondern auch Heimat gewesen ist. Stand hinter der Zurückweisung der Tragödie der Vertriebenen das Sühnebedürfnis eines linksliberalen Milieus, so verbirgt sich hinter der Indolenz gegenüber spezifischen, nicht restlos ins Schema passenden Befindlichkeiten und Erinnerungsbeständen der Neubürger ein Geschichtsnihilismus umfassender Art.

Als sei das Bewußtsein des einzelnen ein Klon des Hegelschen Weltgeistes, der abwechselnd im Supermarkt oder während der Bundestagswahl zu sich kommt, werden 40 Jahre DDR professoral zur Fußnote deutscher Geschichte erklärt. Doch der Mensch erinnert nun mal keine allgemeine Menschheitshistorie – auch dann nicht, wenn sie in einem demokratischen Glückszustand kulminiert. Er zehrt von seiner eigenen Biographie, von dem, was ihm an einem konkreten Ort widerfährt und begegnet. Das geht in keiner politischen Ordnung, in keinem Parteiprogramm auf.

5 – Dockten Ängste im linken Milieu nach dem Fall der Mauer zunächst an das Gespenst eines Großdeutschland an, hat man inzwischen die „progressiven Konturen“ des Begriffs Heimat entdeckt. Auch der im Globalen zerstreute Proletarier hat Heimweh. Doch da eine Option zur Heimat immer nahe am Bekenntnis zum Nationalen liegt, zieht man sich mit Hoffnungsentwürfen aus der Malaise. Behauptet wird die soziale und ökonomische Determiniertheit eines im Heimweh entfremdeten Gefühls. Diskursfähig sei Heimat nur, wenn die Sehnsucht nach ihr von ethnischen Prämissen und konkreten geographischen Räumen emanzipiert sei. Verquer durch linke Theorieansätze zieht sich die Überzeugung, Heimat sei Kompensationsraum für die brüchigen Egos privatkapitalistisch zerstreuter Subjekte. Sobald die Politik menschenwürdige Verhältnisse schaffe, werde das in der Heimat erhoffte Glück konkret, die Sehnsucht nach einem Raum der Geborgenheit schlage um in ein universales, von ökonomischen Bindungen befreites Weltverhältnis. Nebenbei läßt sich mit solchen Heilsversprechen die zugewanderte, heimatlos gewordene Kundschaft einbinden.

6 – Heimat, Nation, Staat: Die Begriffe streben eher auseinander. Heimat ist lebensweltlicher, durch nichts zu ersetzender Topos auch dann, wenn Nationen oder der Weltstaat auf der Agenda stehen. Als Tausende Menschen vor 1850 aus der Saargegend wegen fehlender sozialer Chancen nach Amerika auswanderten, sangen sie: „Nun ade, du mein lieb Heimatland“. Von Staat und Nation sangen sie nicht. In Katastrophen ist Heimat die letzte Energiereserve. Als sich im Zweiten Weltkrieg die Niederlage abzeichnete, war in Deutschland von Nation und Vaterland immer weniger die Rede. Jetzt, so die Sprachregelung, sollte nur noch die Heimat verteidigt werden. Goebbels zapfte eine Tiefenströmung an. Neuerdings sehen wir, wie sich die osteuropäischen Wanderarbeiter aus Irland, England, Frankreich auf den Heimweg machen. Ziel ist der rumänische Staat sowenig wie der ukrainische oder albanische: eher das Dorf in den Beskiden, die Kleinstadt im Donaudelta. In Zeiten des Umbruchs und in Katastrophen wird Heimat zur Energiereserve.

7 – Im flüchtigen Zustand der Moderne ist Heimweh ein Phantomschmerz. Dagegen hilft Powershopping in ParisLondonWien. Überall hängt das neue Weltbürgertum herum, stopft Sushi in sich hinein, kauft Folklore und wedelt mit der Kreditkarte. Wem das nötige Kleingeld dafür fehlt, der darf sich zu Hause über Multikulturalität freuen. Wobei der Begriff in Deutschland den Traum von einer Wolkenkuckucksgesellschaft meint und nie die wirkliche Faktenlage.

Einer kuriosen Dialektik zufolge soll das Abräumen von Bindungen und Traditionen, von Ressentiments und Differenzen in eine freie, weil homogene und umfassend versöhnte Weltzivilisation umschlagen. Der Ort dieses Völkerkarnevals, bei dem sich Gewinner und Verlierer der Globalisierung wie Brüder in den Armen liegen sollen, wird noch bekanntgegeben. Der öffentliche Raum ist es vorerst nicht. Denn dort findet man die umfassend versöhnte Weltzivilisation genausowenig wie den genius loci von einst. Die eine gibt es nicht, der andere weicht dem Ansturm narzißtischer Individualitäten und multikultureller Konzeptmenschen, die abwechselnd ihre persönliche Auffassung von Freiheit oder ihr Recht auf irgend etwas zur Schau stellen. Es gehört zu den Zumutungen einer verordneten Mulikulturalität, daß die Fähigkeiten der Zivilität nicht nachgefragt werden. Wenn Zivilität bedeutet, „andere nicht mit der eigenen Person, den eigenen Problemen zu belasten“ (Richard Sennett), dann erleben wir gerade ihren Abstieg.

8 – Heimat Europa? Dem Volk soll man nicht Heimat, sondern Wohlstand versprechen. Dann fallen die Grenzen wie von selbst. Wer zu Europa gehören will, bekennt sich also am besten zu Wohlstand und Freiheit. Was darunter genau zu verstehen ist, wird von einem überstaatlichen Systemmanagement in Brüssel definiert: Verteilung, Wartung, Überwachung, Reporting. Das Gemeinwesen betreffende Entwicklungen werden aus der Transparenz der nationalstaatlichen und kommunalen Parlamente auf die übernationale Ebene in Brüssel verschoben. Dort treffen dann Beamte ohne Verantwortlichkeit für das Lokale und Begrenzte die Entscheidungen.

Nationale Territorien, heimatliche Regionen mit ihren Verbindlichkeiten und Traditionen sind für die Bürokratie ein Hindernis, denn sie verlangen Bindung und Seßhaftigkeit: also genau das, was die Fahrt in den Eurokratenstaat bremsen würde. Es geht nur bedingt um die Interessen der Europäer, sondern darum, barrierefrei zu regieren. Im Vertrag von Lissabon kommt das Wort Heimat nicht vor. Von nationalen Identitäten der Europäer ist die Rede. Doch ist Identität hier nicht viel mehr als ein Polizeibegriff. Denn im Verständnis der Eurokratie sind nationale Identitäten je nach politischer Gemengelage beliebig teil- oder zusammenführbar – siehe Balkan. Für die Eurokraten sind wir, die wir ihnen mit unseren Zweifeln und regionalen Macken, mit unserer Sturheit und Verbocktheit auf die Nerven gehen, bloß „die Dummköpfe, die irgendwo geboren sind“ (Georges Brassens).

9 – Irgendwo muß man sich einrichten in der Welt. Selbst wenn man sich zu Dauermobilität entschlossen hat, braucht es ein paar Dinge, die in keiner Verfassung, keinem Reisekatalog zu finden sind. Keine Ideologie, nicht ein jeweils unter anderen politischen Zeichen stehender Begriff von Heimat gibt Halt, sondern Überlieferung. Die Minimalausstattung wäre ein Bewußtsein von der eigenen Herkunft, auch der eigenen Sterblichkeit.

Der Mensch braucht einen Mittelpunkt, einen Ort, von dem er ausgehen, auf den er sich beziehen, zu dem er zurückkehren kann. Nur so hat sein Wandern in der Welt einen Sinn. Und nur so ist die Distanz ermeßbar, die ihn von seinesgleichen wie von den Sternen trennt. Welt ist immer ein ganz konkreter Ort. Ihr Nullmeridian ist die Wiege. Zuerst heißt sie Heimat. Alle später eingetragenen Koordinaten – das Haus, die Straßen, der Landstrich, Städte und Länder – werden von hier aus erfahren und bestimmt. Auch wenn wir nie mehr dorthin zurückkehren, einmal, das wissen wir, waren wir zu Hause. Vor aller Geworfenheit, so Gaston Bachelard, ist der Mensch in die Wiege des Hauses gelegt: „Das Sein ist sofort ein Wert. Das Leben beginnt gut.“ Nicht jeder wird solches Urvertrauen teilen. Doch macht es immun, gegen Utopien genauso wie gegen die Spiegelungen verlorener Paradiese. Des Ursprungs eingedenk, läßt sich noch am entlegensten Ort Zugehörigkeit zu einer Heimat stiften.

10 – Heimat ist konservatives Territorium, ist Begrenztheit im guten Wortsinn. Sie verlockt, das Eingehegte zu überschreiten, und ist im Uferlosen zugleich auch die Gewißheit eines Hafens. Ohne solche Begrenzung verarmt der Mensch. Ob, wer die Arroganz des Bindungslosen gegen die Seßhaften ausspielt, Weltbürger ist, steht dahin. Denn im Weltbürger steckt, sieht man genauer hin, oft nur der Club-Med-Tourist, der die Annehmlichkeiten seiner Mastercard mit Freiheit, „Miles-and-more“-Rabatte mit Weltläufigkeit verwechselt.

Wenn die Welt auch angeblich flach ist – Heimat ist es nicht. Sie ist ältestes Rückzugsgebiet, ist Wald, offenes Meer, Gebirge, Acker, Stadt, Straße, Gasse, Haus, Metropole, Wüste. Wer sich hier auskennt, kann sich lange vielen Zugriffen entziehen. Um diesen Ort nicht zu verlieren, muß man sich schon beim Fortgehen umdrehen. Auch wer auf Zukunft setzt, braucht Navigationspunkte in der Vergangenheit. Odysseus wird vom Heimweh getrieben, die Sterne von Ithaka lenken sein Schiff.

 

Rainer Gebhardt, Jahrgang 1950, studierte Philosophie in Jena. Nach freier Mitarbeit in verschiedenen Verlagen war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Goethe-Nationalmuseum in Weimar. 1983 erfolgte die Aberkennung der Staatsbürgerschaft und Ausreise aus der DDR. Seitdem ist er als Texter für Werbeagenturen, Kommunikationsberater für Großunternehmen und als freier Autor tätig. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Vergangenheitsbewältigung (JF 25/08).

Foto: Nach Hause kommen: M. ruft an, erzählt, daß sie ihn entlassen haben. Wie es jetzt weitergeht, was kommt, weiß M. nicht. Am liebsten, sagt er, würde er jetzt nach Hause fahren. „Ich meine, richtig nach Hause.“ M. gehört zum IT-Proletariat des 21. Jahrhunderts. Im großen Heringsschwarm der Arbeitsnomaden ist er einer von denen, die sich nun auf den Heimweg machen. Als gäbe es in einer Welt, in der Bindungen an Landschaften und Menschen nur Ballast sind, einen Anfang, an den wir zurückkehren könnten, einen Ort, der einem das Herz wärmt und wo Glück auch ohne Geld zu haben ist. Vielleicht ist er dort, wo sie einen hereinlassen müssen, wenn man an die Tür klopft, wie der Lyriker Robert Frost einmal gesagt hat. Was ein Recht voraussetzen würde, das weder durch Verdienst noch durch Macht, allein durch die nicht verhandelbare Tatsache begründet wäre, daß wir an einem bestimmten Ort geboren sind. Und vielleicht heißt er Heimat.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen