© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/09 19. Juni 2009

Extremsport: Je halsbrecherischer desto besser
Voll gepumpt mit Adrenalin
Baal Müller

Für erlebnishungrige Berlin-Touristen, denen das übliche Sightseeing-Programm mit Brandenburger Tor, Reichstag, Ku’damm und Siegessäule zu langweilig ist, kann die Hauptstadt seit dem 15. Mai mit einer in Europa einzigartigen Base-Flying-Anlage aufwarten: Von einer Rampe auf dem Park Inn Hotel, dem höchsten Gebäude der Stadt, springt man 125 Meter in die Tiefe und landet, von einem elastischen Seil abgefedert und tüchtig mit Adrenalin vollgepumpt, auf dem Alexanderplatz.

Anders als beim „klassischen“ Bungee-Springen, bei dem man sich aus meist nur 60 bis 70 Meter Höhe kopfüber hinunterstürzen muß, ist man in waagerechter Position aufgehängt und nähert sich dem Boden beinahe mit der Geschwindigkeit des freien Falls, so daß die 99 Euro verdammt schnell ausgegeben sind – schneller sogar, als würfe man das Geld im obersten Stock des Hotels aus dem Fenster, denn zumindest die Scheine flattern länger als die acht bis neun Sekunden, die der Spaß andauert.

Richtigen Draufgängern wie Waleri Rosow, der im April mit einem Fallschirm aus 3.300 Meter Höhe in einen über 2.300 Meter hohen aktiven Vulkan auf der russischen Halbinsel Kamtschatka gesprungen und in einer brodelnden Hölle aus giftigen Gasen gelandet ist, dürfte solch komfortables Hängen an Seilen und Gurten nur ein müdes Lächeln entlocken, und tatsächlich läßt sich in letzter Zeit eine starke Popularisierung des Extremsports beobachten, die recht unterschiedliche Tendenzen zeigt.

Parallel zur Etablierung von Bungee- und Fallschirmspringen, Gleitschirmfliegen und Freeclymbing als Breitensport entstehen neue Spezialistensportarten wie das Fliegen im Wingsuit, einem für Fallschirmspringer entwickelten „Flügelanzug“, in dem man viele Kilometer weit mit bis zu 250 Stundenkilometern durch die Luft rasen kann, oder das halsbrecherische Highlining oder Slacklining, bei dem man auf einem Seil über eine Schlucht balanciert, und schließlich sucht sich auch die gewöhnliche, nicht professionalisierte Tollkühnheit immer neue Entfaltungsmöglichkeiten bei lebensgefährlichen Kletter- oder Surfaktionen.

Interessant ist oft die Verbindung von genauester Planung, die das Risiko minimieren soll, mit dem Wahnsinn, der doch gerade dieses Restrisiko sucht – besonders deutlich im Fall des „Trainrider“, der zu einer Internetlegende geworden ist: Mit einem Saugheber befestigte sich der junge Mann an der Scheibe eines ICE, filmte sich bei seiner Fahrt mit 300 Stundenkilometern und konnte, nebenbei bemerkt, juristisch nicht belangt werden, da er einen Fahrschein gelöst und nicht in den Schienenverkehr eingegriffen hatte. Lenins Wort von den deutschen Revolutionären, die selbst bei der Anreise zur Revolution noch eine Bahnsteigkarte lösen würden, liegt nicht ganz fern, und ebensowenig der Gedanke an die jugendlichen Himmelfahrtskommando-Aktionen aus den letzten Kriegstagen, die aufgrund der tragischen Einheit von Sinnlosigkeit, Idealismus und heute kaum noch verständlicher Zielsetzung so schwer zu bewerten sind.

Natürlich geht es in der sich ihrem Ende zuneigenden Spaßgesellschaft, die ja auch eine Sicherheits- und Versicherungsgesellschaft ist, nicht um Krieg und Revolution, sondern um den privaten „Kick“, dessen Motivation indes nichts Neues ist, da Mutproben zu allen Zeiten von Heranwachsenden gepflegt wurden – wenn sie auch früher wie das Bungee-Springen bei den Eingeborenen auf der Südseeinsel Vanuatu, wo es seinen Ursprung hat, Initiationszwecken dienten –, aber die kulturelle Ausgestaltung dieses archetypischen Verhaltens trägt doch sehr gegenwärtige Züge.

Die Möglichkeit, sich jederzeit filmen und seine „Heldentat“ im Internet einem potentiellen Millionenpublikum bekanntmachen zu können, nährt die Sehnsucht nach schnellem Ruhm; vielleicht noch typischer für unsere Zeit aber ist die dekadente Mischung aus individualisierter, spielerischer Tollkühnheit, technisch-planerischer Raffinesse und Lebensüberdruß. Ist letzterer im Extremsport durch eine ausgestellte Virilität überlagert, spricht er mit erschütternder Deutlichkeit aus Zeitungsanzeigen, in denen sich junge Mädchen HIV-Infizierten als Sexpartnerinnen anbieten.

 Auch die Todessehnsucht hat also eine männliche und eine weibliche Erscheinungsform: Männlich ist der öffentlichkeitsorientierte Aktivismus, der den Tod als Variable in seine Planungen einkalkuliert, weiblich ist die anonyme, endgültig-finale Hingabe, und „postmodern“ ist die Sinnlosigkeit des Ganzen. Endet der totale Hedonismus in der Selbstzerstörung, wenn alle Lüste ausgekostet sind?

Foto: Bungee-Springen: Diente ursprünglich Initiationszwecken

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