© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/09 03. Juli 2009

Hütet Euch, das Land zu betreten
Jemen: Der Staat auf der arabischen Halbinsel gerät mehr und mehr in die Fänge der Terrororganisation al-Qaida
Günther Deschner

Die hundert Gefangenen aus dem Jemen, die noch im US-Gefängnis Guantánamo festgehalten werden, schienen lange Zeit das wesentliche Potential dessen zu sein, was die US-Geheimdienste als den „harten Kern“ der um al-Qaida gruppierten jemenitischen Dschihadisten erkennen konnten. Ihr Heimatstaat kann nicht dafür garantieren, daß sie im Falle ihrer Entlassung nicht erneut Anlehnung an eine Terrorgruppe finden.

Denn seit einigen Monaten ist al-Qaida im jemenitischen Süden der arabischen Halbinsel wieder aktiv. Die Entführung und Ermordung mehrerer Deutscher und anderer Ausländer vor einigen Wochen hat dies erneut bestätigt. Bei den Verschleppten handelte es sich um ein deutsches Ehepaar, seine drei Kinder, zwei deutsche Bibelschülerinnen sowie einen Briten und dessen koreanische Frau.

Die Morde riefen die offene Drohung mit einer gezielten Jagd auf „Ungläubige“ in Erinnerung, die unter Berufung auf eine Ankündigung der al-Qaida bereits im März 2008 in der jemenitisch-islamistischen Zeitschrift Saada al-Malahim erschienen war. Dort heißt es: „Daher warnen wir Euch, Ihr Ungläubigen: Hütet Euch davor, die arabische Halbinsel mit welcher Verkleidung auch immer zu betreten: ob als Tourist, Diplomat, Helfer oder Journalist!“ Seither zeichneten die Aktivisten der al-Qaida mit Attentaten und Morden abermals eine blutige Spur. Auch für die Ermordung der deutschen Bibelschülerinnen machte Jemens Innenminister die al-Qaida verantwortlich.

Seit 2002 läßt sich Jemens Staatschef Ali Abdullah Salih von den USA im Kampf gegen den Terrorismus unterstützen – eine Kooperation, die im eigenen Land auf Widerstand stößt. Nach einigen spektakulären Anschlägen wie im Jahr 2000 auf das US-Kriegsschiff „Cole“ im Hafen von Aden, wobei 17 Amerikaner umkamen, und auf den französischen Öltanker „Limbourg“ 2002, der von einem Sprengstoff-Boot der al-Qaida vor Südjemen gerammt wurde, war der Jemen weitgehend von islamistischer Gewalt verschont geblieben. Das ärmste Land in der Region, mit seinen zahllosen Berghöhlen, großen Wüsten und einer 2.000 Kilometer langen Küste galt lange nur als „Ruheraum“ von al-Qaida.

Doch mit der Ruhe ist es vorbei, seit al-Qaida den Jemen wieder zum Operationsfeld erklärt hat. Ausländische Urlauber, Ölanlagen und diplomatische Vertretungen wurden in den vergangenen Monaten zum Ziel von Anschlägen. Bereits im vergangenen September hatte ein Terrorkommando aus Hudeida die US-Botschaft in Sanaa mit zwei Autobomben angegriffen, wobei 16 Jemeniten, aber keine Amerikaner, ums Leben gekommen waren. Erst Mitte März sprengte sich ein 18jähriger in die Luft und tötete vier Südkoreaner, die gerade den Sonnenuntergang über den Lehmhochhäusern der Weltkulturerbestadt Schibam beobachteten.

Zellen des Terrornetzwerks aus Saudi-Arabien und dem Jemen hatten sich Anfang des Jahres zusammengeschlossen. Als ihr Anführer gilt der Jemenit Nassir al-Wahishi, einst persönlicher Sekretär von Osama bin Laden, dessen Familie ebenfalls aus dem Jemen stammt. Mit 23 anderen mutmaßlichen Terroristen war Wahishi vor drei Jahren aus einem Hochsicherheitsgefängnis in Sanaa entkommen – durch einen 300 Meter langen Tunnel zur benachbarten Moschee.

Im vergangenen Februar feuerte Aiman al-Sawahiri, Stellvertreter Bin Ladens und Vizechef der al-Qaida, in einer Videobotschaft seine Parteigänger im Jemen zu mehr Aktivitäten an. Er lobte das „Wiedererstarken des Dschihad“ auf der arabischen Halbinsel und beschwor die „Stämme des Jemen“, nicht hinter ihren „Brüdern in Afghanistan“, zurückzustehen. Wie der Branchendienst „Terrorism Monitor“ seit einigen Monaten berichtet, sind aber nicht nur saudi-arabische al-Qaida-Kader in den Jemen gegangen. Da Führungskadern und Kämpfern der Boden in Irak, in Afghanistan und Pakistan zu heiß geworden ist, sickern auch aus diesen Ländern immer mehr Dschihadisten nach Süden – meist nach Somalia und Jemen. Da die Regierungsgewalt in dem Land äußerst schwach und die Sympathie für Osama bin Laden weit verbreitet ist, befürchten Terroranalysten, daß der Jemen sich in ein „Afghanistan am Golf“ verwandeln könnte.

Der Jemen ist ein schon länger außer Kontrolle geratener Staat, in dem sich al-Qaida relativ frei bewegen kann. Er hat noch nie eine anderen Ländern vergleichbare staatliche Organisation gekannt. Ein US-Diplomat hat den Jemen einmal als „ein Land im 12. Jahrhundert“ beschrieben, „das mit Riesenschritten auf das 15. Jahrhundert zugeht“. Weil weder die Türken zu Zeiten ihres Osmanischen Reiches noch die Briten im Zeitalter des Kolonialismus den Jemen wirklich kontrollierten, hinterließ keiner von beiden eine Verwaltungsstruktur, wie sie andere Ex-Kolonien noch heute  auszeichnet. Die Einwohner sind zu 97 Prozent Araber, die zu etwa 1.700 Clans oder Stämmen gehören, aber es gibt auch kleine Minderheiten von Schwarzafrikanern, Indern und Pakistani.

Die Geschichte des Jemen ist von Kriegen geprägt. Zwischen 1970 und 1990 gab es zwei Staaten, Nord- und Südjemen, die ökonomisch und kulturell verflochten waren. Erst seit 1990 sind sie vereinigt in der Islamischen Republik Jemen. Über 99 Prozent der Jemeniten sind Muslime – zwei Drittel Sunniten, ein Drittel Schiiten. In der Verfassung sind der Islam als Staatsreligion und die Scharia als Richtschnur der Gesetzgebung festgelegt. Jemenitische Bürger dürfen nicht zum Christentum konvertieren. Tun sie es dennoch, droht ihnen die Todesstrafe.

Die Jemeniten verdienen ihren Lebensunterhalt als Bauern, Fischer oder Handwerker. Es gibt praktisch keine Mittelschicht. Die meisten sind arm, doch existiert auch eine sehr dünne und sehr reiche Oberschicht. Die Regierung hat das Land der Berge und Wüsten so gut wie nicht im Griff. Jeder Zweite im Land ist Analphabet, mehr als jeder Dritte arbeitslos. Waffen gibt es reichlich, zwischen 40 und 50 Millionen Stück für 22 Millionen Einwohner – für das al-Qaida-Netzwerk eine ideale Voraussetzung.

Dieser Staat läuft ständig Gefahr zusammenzubrechen. Das Regime von Präsident Ali Abdullah Salih nennt sich demokratisch, aber die jemenitische Demokratie hat seit nunmehr 31 Jahren immer wieder denselben Präsidenten „gekürt“ – obwohl laut Verfassung ein Präsident nur zwei Wahlperioden regieren darf. Das Regime ist auf Korruption und Nepotismus aufgebaut.

Alle wichtigen oder einträglichen Posten sind von Angehörigen des Präsidenten besetzt. Derzeit deutet alles darauf hin, daß er für 2013 seinen Sohn als Nachfolger aufbaut. Auch auf diesen Regierungsstil wird zurückgeführt, daß Oppositions- und Sezessionsbewegungen zunehmen. Es gibt derzeit einen kleinen Bürgerkrieg im Norden, die „Huthi“-Aufstände, geführt von den Anhängern des schiitischen Klerikers Hussein al-Huthi, sowie separatistische Unruhen im Süden. Die Ankündigung Nassir al-Wahishis, mit der al-Qaida die Separatisten zu unterstützen, ist als weiterer Versuch zu verstehen, die Zentralregierung zu schwächen.

Die Terrorzellen finden in der schlecht kontrollierten jemenitisch-saudischen Grenzregion auch einen Raum für Aktionen gegen Saudi-Arabien. Die jemenitisch-saudische Grenze ist erst im Juni 2000 im Vertrag von Dschidda festgelegt und im Juni 2006 markiert worden. Anfang April verstärkte die Entdeckung von al-Qaida-Schlupfwinkeln und Depots die Angst, der Jemen könne zu einem zweiten Afghanistan direkt vor der saudischen Haustür werden. In den entdeckten Höhlen-Depots fand man Waffen und Munition, Nischen, um Geiseln darin festzuhalten, und Kameras, um sie zu filmen. Riad hatte nach dem 11. September 2001 eine Serie von al-Qaida-Anschlägen erlebt und hart gegen die Terrorzellen zugeschlagen. Jetzt aber fürchtet das Königreich die Rückkehr des Terrorismus durch die Hintertür. Al-Qaida-Kämpfer, auch Rückkehrer aus Afghanistan und dem Irak, haben nach jemenitischen Angaben bei einer Reihe von Stämmen in drei Provinzen direkt an der Grenze zu Saudi-Arabien Zuflucht gefunden. Diese Provinzen – Marib, Schabwa und Jawf – werden schon als „Dreieck des Bösen“ bezeichnet.

Der Jemen als regionaler Aufmarschraum der Qaida – das ist auch für die USA eine Horrorvision. Der im Pentagon für die Region zuständige General David Petraeus sprach jüngst offen aus, daß die Schwäche der jemenitischen Regierung der al-Qaida einen sicheren Rückzugs- und Operationsraum verschaffen und daß Terroristen „Jemens Nachbarn, insbesondere Saudi-Arabien und andere Golfstaaten bedrohen“ könnten. Zudem liegt das Land strategisch günstig, nahe einigen wichtigen Erdölförderländern und am Golf von Aden direkt gegenüber von Somalia. Experten befürchten damit eine Entwicklung, welche die al-Qaida sogar zu einer strategischen Bedrohung der internationalen Schifffahrtsroute vom und zum Suezkanal machen könnte.

Die neue al-Qaida-Generation begnügt sich nicht mehr mit Anschlägen, sondern scheint sich auf Dauer einrichten zu wollen. Der Westen sorgt sich zunehmend, daß aus dem Jemen endgültig ein failed state, ein gescheiterter Staat wird, in dem immer neue Konfliktherde aufflammen und in dem Netzwerke von Dschihadisten frei schalten und walten können.

Fotos: Haraz-Gebirge im Südwesten des Jemen: Die Schlupfwinkel der Kommandos sind in dem Land der zerklüfteten Berge und ausgedehnten Wüsten nur schwer auszumachen, Videobotschaft jemenitischer Dschihadisten (Jan. 2009): Nassir al-Wahishi (2.v.r.) gilt als deren Kopf

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