© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/09 03. Juli 2009

Von der Finanz- zur Systemkrise
Kippt Deutschlands zweite Republik?
von Peter Kuntze

In seinen „Betrachtungen zur Französischen Revolution“ formulierte Edmund Burke, der große englische Konservative, 1790 eine Prophetie, die von bestürzender Aktualität ist: „Nationen waten tiefer und tiefer in den Ozean einer grenzenlosen Staatsschuld. Diese Staatsschuld, die den Regierungen anfänglich Sicherheit verschaffte,  insofern als sie bei vielen das Interesse an der öffentlichen Ruhe beförderte, wird in dem Übermaß, zu welchem sie gediehen ist, wahrscheinlich die Veranlassung zu ihrem Umsturz werden (...) Revolutionen sind treffliche Gelegenheiten zu Konfiskationen; und wer kann voraussehen, unter welchem Titel das nächste Bubenstück dieser Art in die Welt treten wird?“

Lenin, der geniale Taktiker und Praktiker der Revolution, wußte zumindest, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um das „Bubenstück“ ins Werk zu setzen: „Erst dann, wenn die Unterschichten das Alte nicht mehr wollen und die Oberschichten in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen.“ Voraussetzung sei mithin eine gesamtnationale Krise, die Regierende wie Regierte gleichermaßen erfaßt.

Daß dies auch in Deutschland bald der Fall sein könnte, darf nach dem Willen der Herrschenden nur gedacht, keineswegs aber laut ausgesprochen werden. Wer es dennoch tut, wird „unverantwortlicher Panikmache“ geziehen – wie DGB-Chef Michael Sommer und Gesine Schwan, die gescheiterte Bundespräsidentschaftskandidatin der SPD. Schwan hatte Ende April gewarnt, die Wirtschaftskrise könne zu einer Gefahr für die Demokratie werden, falls nicht energisch gegengesteuert werde; sollte sich nach dem Auslaufen abfedernder Maßnahmen wie des Kurzarbeitergelds kein Hoffnungsschimmer zeigen, drohe die Stimmung „explosiv“ zu werden. Sommer wiederum verwies darauf, daß die Rezession nicht mehr nur Randbereiche der Gesellschaft erfasse, sondern längst auch die klassischen Kernbereiche der Arbeiter und Angestellten sowie den Mittelstand. Das Schrumpfen der Wirtschaft um sechs Prozent sei vergleichbar mit den Zahlen aus den Jahren der Wirtschaftskrise 1930, 1931 und 1932 – „mit den bekannten Folgen“.

Auch wenn Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) dem sofort entgegenhielt, Deutschland sei ein funktionierender Sozialstaat, „der auch Möglichkeiten schafft, mit schwierigen Situationen klarzukommen“, wollen die skeptischen Stimmen nicht verstummen. So sieht der Bielefelder Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser durchaus eine gewisse Vergleichbarkeit der Weltwirtschaftskrisen damals und heute. Soziale Unruhen, die nicht von Parteien getragen würden, schloß der Historiker daher auch für die Bundesrepublik nicht aus.

Alles nur Panikmache? Die Wahrheit ist, daß die politische Klasse selbst schon längst von Panik ergriffen ist und ihre Repräsentanten, wie es in einem chinesischen Sprichwort heißt, „wie Ameisen in einer heißen Pfanne hin- und herrennen“. Wunschdenken, Schönreden und Gesundbeten – mit dieser dreifachen Flucht vor der Wirklichkeit wird immer häufiger Politik simuliert. So hatten die Regierenden, allen voran der schneidige Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) und die stets um Applanierung bemühte Kanzlerin, die globale Krise mit Verzögerung wahrgenommen. Erst dachten sie, es handle sich um ein Problem nur der USA, bald jedoch mußten sie zur Kenntnis nehmen, daß die deutschen Banken, allen voran die staatlich geführten Landesinstitute, noch fahrlässiger gewirtschaftet hatten als jene der Wall Street.

Als sich abzeichnete, daß sich die Finanz- zu einer Wirtschaftskrise auswuchs, hieß es vollmundig in Berlin: „Deutschland ist gut aufgestellt.“ Politiker und die ihnen nach dem Mund redenden Medien räsonierten über das Ende des angelsächsischen Kapitalismus, bis die Realität der Debatte Ende April ein ernüchterndes Ende bereitete: Die deutsche Wirtschaft ist von der Rezession noch viel stärker getroffen worden als die amerikanische. Der noch nie dagewesene Rückgang um sechs Prozent wird unter den großen Industrieländern nur noch von Japan überboten. Ein Winter mit dramatisch steigender Arbeitslosigkeit steht Deutschland bevor. Man mußte indes kein Fachmann sein, um vorauszusehen, daß die erfolgreichste Exportnation der Welt in dieser globalen Finanz- und Wirtschaftskrise keineswegs „gut aufgestellt“ ist, sondern in schwerstes Fahrwasser geraten muß, wenn die internationalen Märkte wegbrechen.

Nach Zahlen aus dem Finanzministerium wird die Verschuldung von Bund, Ländern und Kommunen bis 2012 um etwa 300 Milliarden Euro auf 1,92 Billionen steigen (Ende 2008 lag die Staatsverschuldung schon bei exorbitanten 1,63 Billionen). Somit wird sich der gesamtstaatliche Schuldenstand gemessen an der Wirtschaftsleistung in den kommenden drei Jahren von zuletzt 65,5 Prozent auf 72,5 Prozent erhöhen; gemäß dem europäischen Stabilitätspakt sind eigentlich nur 60 Prozent erlaubt. Die Haushaltsexperten der Koalitionsfraktionen – die einzigen, die sich nicht in Vogel-Strauß-Politik flüchten – nennen die Zahlen ein „Alarmsignal“. So erklärte der SPD-Abgeordnete Carsten Schneider, die Daten belegten, in welcher Ausnahmesituation sich das Land befinde: „Insbesondere der Schuldenstand zeigt, daß wir uns mit den vorgeschlagenen Maßnahmen an der Grenze der Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft bewegen.“

Noch im Sommer 2008 hatte sich Steinbrück gebrüstet, spätestens 2011, vielleicht schon 2010 keine neuen Schulden mehr aufnehmen zu müssen. Dieser Traum ist geplatzt. Jetzt geht Steinbrück allein für dieses Jahr von einer Kreditaufnahme von 47,6 Milliarden Euro aus (Stand: Anfang Juni), 10,7 Milliarden mehr als bisher geplant – der Schuldenrekord von Theo Waigel hatte 1996 bei umgerechnet 40 Milliarden Euro gelegen. Die Regierung der Großen Koalition hat somit nicht nur die größte Steuererhöhung (von 16 auf 19 Prozent Mehrwertsteuer), sondern auch die meisten Schulden in der Geschichte der Bundesrepublik zu verantworten. Im Jahr 2010 werden wahrscheinlich sogar rund 90 Milliarden Euro in der Bundeskasse fehlen.

Nach Berechnungen der Haushälter der Union muß der Bund bis 2013 insgesamt 400 Milliarden Euro über Kredite finanzieren – eine unvorstellbare Summe. Noch nicht einbezogen sind dabei Ausfälle aus den „Bad Banks“, mit denen die Finanzinstitute von Schrottpapieren im Wert von rund 250 Milliarden Euro befreit werden sollen. Ferner hat der Staat in den vergangenen Monaten diverse Banken mit 578 Milliarden Euro gestützt – zumeist mit Bürgschaften, die jedoch im schlimmsten Fall fällig werden können. Weitere 115 Milliarden stehen anderen Unternehmen als Bürgschaften und Kredithilfen zur Verfügung. Außerdem, so die traditionelle Steuerschätzung Mitte Mai, werden Bund, Ländern und Gemeinden bis 2013 Einnahmen in Höhe von 310 Milliarden Euro fehlen.

Diese Prognose ist besonders dramatisch, denn bisher sind die Steuereinnahmen Jahr für Jahr gestiegen, nur ihr Zuwachs fiel manchmal geringer aus als erwartet. Diesmal jedoch rechnen Finanzexperten und Wirtschaftsforscher damit, daß in den nächsten drei Jahren weniger Geld in die Staatskassen fließen wird als noch im Jahr 2008 – erstmals also werden die zu verteilenden Einnahmen sinken. Jede Regierung wird somit vor der Alternative stehen, entweder die Ausgaben rigoros zu kürzen sowie Steuern und Abgaben zu erhöhen oder aber weiter Schulden zu machen in der vagen Hoffnung, dadurch lasse sich die Konjunktur ankurbeln.

Was für den Bundeshaushalt gilt, gilt ebenso für die Sozialkassen. Die Auswirkungen der Krise werden die meisten Menschen erst im nächsten Jahr deutlich zu spüren bekommen. Dann nämlich, so die Bundesagentur für Arbeit, dürfte es mehr als fünf Millionen Erwerbslose geben; nur die massive Ausweitung der Kurzarbeit hat bislang verhindert, daß die Vier-Millionen-Grenze schon jetzt überschritten worden ist. Die Höhe der Arbeitslosigkeit aber hat einen direkten Einfluß auf die Sozialversicherungssysteme, denn sie werden vornehmlich aus Beiträgen finanziert, die sich aus Löhnen und Gehältern speisen. Spätestens Mitte 2010 dürfte bei der Bundesagentur ein Milliarden-Defizit entstehen, das der Staat mit einem Darlehen wird ausgleichen müssen.

Nicht besser steht es um das Gesundheitswesen, das seit langem mit den weltweit dritthöchsten Beiträgen finanziert wird. Für den Gesundheitsfonds rechnen die Kassen mit einem Minus von bis zu zehn Milliarden Euro im kommenden Jahr. Somit werden sie gezwungen sein, Zusatzbeiträge zu erheben, die nur die Arbeitnehmer aufbringen müssen. Durch Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit sinkt die Lohnsumme, die wiederum Grundlage der Rentenberechnung ist. Die Rentner werden sich daher auf jahrelange Nullrunden einstellen müssen, während auf die Arbeitnehmer Beitragserhöhungen zukommen werden.

Hier schließt sich der Kreis. Wie sich die politische Klasse aus diesem circulus vitiosus befreien will, in den sie sich nicht zuletzt auch durch jahrzehntelange eigene Mißwirtschaft hineinmanövriert hat, steht in den Sternen. Wunschdenken, Schönreden und Gesundbeten sind jedenfalls an ihr Ende gekommen; jetzt ist konsequentes Handeln gefordert, ohne auf demoskopische Umfragewerte zu schielen. Garantieversprechen, die Renten würden nie gekürzt und die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung vorerst nicht erhöht werden, sind angesichts zu erwartender Inflationstendenzen fadenscheinig und nichts als Akte der Panik. Kein Zweifel: Deutschland befindet sich in der schwersten Krise seit 1929; auf dem Prüfstand stehen nichts weniger als das wirtschaftliche und das politische System.

Erforderlich wären erstens der Abbau von Subventionen aller Art, zweitens der Rückbau des aufgeblähten Sozialhilfesystems sowie drittens der Umbau des Steuerrechts zu einem einfachen Tarifsystem, das den Leistungswillen der Bürger belohnt und nicht bestraft.

Nach dem Scheitern aller Varianten des Sozialismus dürfte indes unbestritten sein, daß es keine vernünftige Alternative zu einer auf Wettbewerb und Leistung beruhenden Marktwirtschaft mit staatlichen Rahmenbedingungen gibt. „Wettbewerb so weit wie möglich, Planung so weit wie nötig“ – mit dieser griffigen Formel hatte die SPD 1959 in ihrem Godesberger Programm die zu erstrebende ökonomische Ordnung beschrieben. Keine der Bonner Altparteien, auch nicht die FDP, hat jedoch jene Zielvorstellung, die der von Ludwig Erhard proklamierten „sozialen Marktwirtschaft“ nahekommt, konsequent umgesetzt.

Erforderlich wären erstens der Abbau von Subventionen aller Art, zweitens der Rückbau des aufgeblähten Sozialhilfesystems zu einem Sozialstaat, der solidarische Unterstützung nur jenen gewährt, die unverschuldet in Not geraten sind, sowie drittens der Umbau des Steuerrechts zu einem einfachen Tarifsystem, das Eigenverantwortung und Leistungswillen der Bürger belohnt und nicht bestraft. Nur so ließen sich kontraproduktive Transferzahlungen des Staates sowie Schwarzarbeit, die mittlerweile zu jährlich 350 Milliarden Euro Mindereinnahmen führt, und Steuerflucht vermeiden.

Doch angesichts des seit Jahren zu beobachtenden Linksrucks in Politik und veröffentlichter Meinung gibt es vorerst keine Aussicht auf einen grundlegenden Richtungswechsel. Im Gegenteil: „Die Wirtschaft ist für die Menschen da, nicht umgekehrt“ – mit derartigen populistischen Slogans wird der Sozialromantik gefrönt und einmal mehr die Flucht aus der Wirklichkeit angetreten. Aufgabe des Unternehmers ist es keineswegs, Arbeitsplätze zu schaffen; er will und muß vielmehr im Wettbewerb Gewinne machen – die Arbeitsplätze folgen, sofern er dabei erfolgreich ist.

Während Deutschlands Wirtschaftsordnung immer tiefer in die schon von Edmund Burke prophezeite Schuldenfalle gerät, kippt das politische System in Richtung einer antifaschistischen Gesinnungsrepublik. Dreh- und Angelpunkt ist die Bewertung der untergegangenen DDR. Nach der längst erfolgten Aufkündigung des anti-totalitären Grundkonsenses, dem zufolge Nationalsozialismus und Kommunismus als gleichermaßen verbrecherisch gelten, wird bis in die Reihen der CDU hinein versucht, dem SED-Staat auch positive Seiten abzugewinnen.

Am weitesten gehen die Sozialdemokraten. So lehnt Gesine Schwan die Bezeichnung „Unrechtsstaat“ für die DDR ab: „Der Begriff impliziert, daß alles unrecht war, was in diesem Staat geschehen ist. So weit würde ich nicht gehen.“ Und Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) erklärte, trotz Diktatur sei die DDR auch „ein Land mit geglückten Biographien und erfolgreichen Menschen“ gewesen. Wer so argumentiert, müßte einräumen, daß gleiches auch für die meisten Menschen im Dritten Reich gegolten hat. Doch diese triviale Erkenntnis verbietet der antifaschistische Konsens, denn in diesem Fall soll selbstverständlich Adornos Diktum gelten, daß es kein richtiges Leben im falschen geben könne. Eine ähnliche Moralheuchelei kennzeichnet den „Kampf gegen Rechts“: Schon längst gilt er nicht mehr nur rechtsextremen Verfassungsfeinden, sondern zunehmend all jenen, die sich einer bürgerlich-konservativen Ordnung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verpflichtet fühlen.

 

Peter Kuntze, ehemaliger Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ist Buchautor und Publizist. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Renaissance des Konfuzianismus in China: „Im Einklang mit dem Weltgesetz“ (JF 17/09).

Foto: Der Staat versinkt im Schuldenstrudel: Die Regierung der Großen Koalition hat mit über 86 Milliarden Euro die höchste deutsche Nettokreditaufnahme seit dem Zweiten Weltkrieg zu verantworten. Deutschland befindet sich in der schwersten Krise seit 1929. Auf dem Prüfstand stehen nichts weniger als das wirtschaftliche und das politische System.

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