© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/09 10. Juli 2009

„Das ist ein epochales Urteil“
Als Prozeßvertreter Peter Gauweilers hat der Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek den spektakulären Lissabon-Entscheid erfochten
Moritz Schwarz

Herr Professor Murswiek, welche Bedeutung hat das Lissabon-Urteil tatsächlich?

Murswiek: Es handelt sich um ein epochales Urteil, wie es nur alle zwanzig Jahre in Karlsruhe gefällt wird. Für die Entwicklung der europäischen Integration wird es auf viele Jahre, vielleicht auf Jahrzehnte die rechtlichen Maßstäbe setzen.

Es waren mehrere Klagen in Sachen Lissabon anhängig. Warum steht nur Ihre im Mittelpunkt des medialen Interesses?

Murswiek: Zum einen, weil unsere Klage eine gewisse Leitfunktion hatte, ganz offensichtlich haben sich andere Klagen an unserer Vorgabe orientiert. Zum anderen, weil unsere die konzeptionell gründlichste war und die meisten Kritikpunkte ansprach. Nehmen Sie zum Vergleich die Klage der Linkspartei, bei der es etwa um soziale Fragen oder das allgemeine Demokratiedefizit in der EU ging, für die aber die Frage des Souveränitätsverlusts überhaupt keine Rolle gespielt hat – also genau die Frage, die jetzt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts so spektakulär und weitreichend macht.

Das Urteil wurde sehr unterschiedlich interpretiert. Während etwa das Online-Portal der JF titelte: „Karlsruhe stoppt Lissabon“, stellte die „taz“ des Gegenteil fest: „EU-Vertrag mit Grundgesetz vereinbar“. Wie verhält es sich tatsächlich? 

Murswiek: Der EU-Vertrag ist laut Urteil zwar mit dem Grundgesetz vereinbar – aber nur mit dem Inhalt, der sich aus der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts ergibt. Die taz liegt völlig falsch. Das Gericht hat mit seiner restriktiven, die Souveränität der Mitgliedstaaten schonenden und die demokratische Verantwortlichkeit der nationalen Parlamente sichernden Interpretation den Vertrag an vielen Stellen erst verfassungsmäßig gemacht und damit dem Anliegen der Klage Rechnung getragen.

Wie kommt man dann zu einem Fazit, wie es die „taz“ zieht?

Murswiek: Offenbar hat man ein politisches Interesse, den Richterspruch herunterzuspielen. Aber es sind eben nicht nur Marginalien, die für verfassungswidrig erklärt wurden – der Vertrag wäre in zentralen Punkten verfassungswidrig gewesen, wenn nicht das Gericht entsprechende Interpretationsmöglichkeiten, die der Wortlaut des Vertrages eröffnet, in für Deutschland verbindlicher Weise ausgeschlossen hätte.

Zum Beispiel?

Murswiek: Zum Beispiel enthält der Vertrag die Formulierung, daß das Europäische Parlament „die Bürgerinnen und Bürger der EU“ repräsentiert. Nach dem bisher geltenden Text setzt sich das EU-Parlament aber aus Vertretern der Völker der Mitgliedstaaten zusammen. Bisher sind die Völker der Mitgliedstaaten die Subjekte, von denen allein die demokratische Legitimation der EU ausgeht. Die neue Formulierung hätte also klammheimlich die Legitimitätssubjekte ausgetauscht und die europäische Demokratie auf ein europäisches „Unionsvolk“ gestützt. Das wäre ein fundamentaler Paradigmenwechsel gewesen – zu Lasten der nationalen Selbstbestimmung der europäischen Völker. Das Gericht sagt, daß dieser Austausch des Subjekts verfassungswidrig wäre; es müsse dabei bleiben, daß allein die Völker der Mitgliedstaaten die demokratischen Subjekte sind.

Die Schicksalsfrage der europäischen Völker zum Lissabon-Vertrag lautet allerdings: Ist damit der Superstaat „Vereinigte Staaten von Europa“ vom Tisch? 

Murswiek: Ja, mit diesem Urteil ist klar, daß unser Grundgesetz einen europäischen Bundesstaat nicht zuläßt. Wer das dennoch will, der müßte – per Artikel 146: „Dieses Grundgesetz ... verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“ – eine verfassunggebende Entscheidung des Volkes herbeiführen, die diesen Weg eröffnet. Mit dem Grundgesetz aber ist das nicht zu machen. Denn – und das ist mit dieser Entscheidung erstmals höchstrichterlich ausgesprochen – zu den von der sogenannten „Ewigkeitsklausel“ unserer Verfassung geschützten „unabänderlichen Verfassungsgütern“ des Grundgesetzes gehört auch die souveräne Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland. 

Also ist der Nationalstaat für das Grundgesetz essentiell. Warum ist das eigentlich so?

Murswiek: Der Parlamentarische Rat hatte sich nicht nur aus Gründen der Tradition für die Neukonstituierung des deutschen Nationalstaats entschieden. Die Nationalstaatsidee hat – wie insbesondere die Freiheitsbewegung im 19. Jahrhundert zeigte – eine enge Verbindung zu individueller Freiheit und Demokratie. Demokratie bedeutet bekanntlich Mehrheitsentscheidung. Das aber heißt, die Minderheit muß die Mehrheitsentscheidung letztlich mittragen. Deshalb ist es für die individuelle Freiheit sehr wichtig, daß es einen möglichst breiten Konsens über die kulturellen und gesellschaftlichen Grundfragen des Gemeinwesens gibt. Denn je größer diese Gemeinsamkeiten sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß diejenigen, die überstimmt werden, durch die Mehrheitsentscheidung nicht in existentiellen Interessen beeinträchtigt werden. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Maastricht-Urteil eine „relative Homogenität“ des demokratischen Subjekts – also ein Grundmaß an kulturellen Gemeinsamkeiten – als Voraussetzung funktionierender Demokratie hervorgehoben.

Obwohl das Lob der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ in aller Munde ist, kennen wir also tatsächlich unser Grundgesetz denkbar schlecht. Wie paßt das zusammen?

Murswiek: Ich hoffe, daß das manche endlich etwas nachdenklich macht. Vor allem Publizisten, Politiker und Politologen meinen oft, Demokratie sei überall, wo abgestimmt wird – wer dagegen das Gemeinwesen bildet, in dem abgestimmt wird, spiele keine Rolle. Das Karlsruher Urteil kann vielleicht ein Anstoß sein, zu reflektieren, warum es so simpel nicht ist. Und daß eine Politik, die dies nicht berücksichtigt, langfristig die Demokratie in Gefahr bringen kann.

Während Bundestag, Bundesrat und Regierung den Lissabon-Vertrag bedenkenlos durchgewinkt haben, haben Peter Gauweiler, der Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider, Verfasser der Klage, und Sie dessen Gefährlichkeit erkannt. Worin genau liegt diese?

Murswiek: Der Lissabon-Vertrag enthält zahlreiche Formulierungen, die sehr dehnbar und unterschiedlich auslegbar sind. Nun muß man wissen, daß es der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist, der maßgeblich die Ausweitung der EU auf Kosten der Mitgliedstaaten vorantreibt. Zu diesem Zweck legt er die EU-Verträge stets so aus, daß dabei möglichst viel an Kompetenzen für die europäischen Organe herauskommt, seine Interpretationen tendieren also zu immer mehr europäischem Zentralismus. Dabei reichen ihm schon winzige Ansatzpunkte im Vertrag, an die man anknüpfen kann, um EU-Kompetenzen auszudehnen. Mittels Lissabon hätte der EuGH ungehemmt jede an sich begrenzte Einzelkompetenz dazu genutzt, um mit der Zeit ein flächendeckendes Kompetenznetz für die EU daraus zu spinnen – sprich: Die EU wäre auf leisen Sohlen und Stück für Stück immer mehr so etwas wie ein europäischer Superstaat geworden.

Was, wenn nicht geklagt worden wäre?

Murswiek: Dann wäre der Vertrag ungebremst in Kraft getreten, und der EuGH hätte jeden Kompetenztitel darin als Brückenkopf nützen können, um quer durch alle Politikfelder immer mehr Kompetenzen an die EU zu bringen. Dem hat das Bundesverfassungsgericht nun einen Riegel vorgeschoben, zumindest für die Bereiche, die für die Souveränität und Identität der EU-Mitgliedstaaten sensibel sind, wie Innere Sicherheit, Polizei, Verteidigung oder Kultur. Laut Karlsruhe ist der Lissabon-Vertrag nämlich nur dann mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn dessen Auslegung äußerst restriktiv und zugunsten des Souveränitätserhalts der Mitgliedstaaten erfolgt.

Bemerkenswert ist, daß sich das Bundesverfassungsgericht sehr nachdrücklich zum Gegenspieler des EuGH aufgeschwungen hat.

Murswiek: Das ist ein entscheidender Punkt: In der Tat hat Karlsruhe sich zum Wächter dieser engen Auslegung erklärt. Das Gericht nimmt die „utra-vires-Kontrolle“ und die „Identitätskontrolle“ für sich in Anspruch. Das heißt, es entscheidet verbindlich darüber, ob EU-Rechtsakte die Kompetenzgrenzen überschreiten, die sich aus den EU-Verträgen ergeben, und ob sie mit dem Verfassungskern des Grundgesetzes – der in Artikel 79, Absatz 3 für die Identität der deutschen Verfassung bestimmend ist – vereinbar sind. Die Gefahr, daß der EuGH als übergeordnete Instanz künftig den Prozeß der europäischen Integration allein kontrolliert und allein verbindlich über die Kompetenzabgrenzung zwischen EU und Mitgliedsstaaten entscheidet, ist abgewendet. Jetzt ist klar, zumindest soweit es Deutschland betrifft, hat das Karlsruher Bundesverfassungsgericht und nicht der Luxemburger EuGH das letzte Wort.    

Ein Gericht macht eigentlich keine Politik, sondern kontrolliert sie. Ist das Verhalten des EuGH mit diesem Gebot der Neutralität überhaupt vereinbar?

Murswiek: Nach meiner Auffassung nicht. Aber der EuGH tut das nun schon seit Jahrzehnten.

Warum ist das dann kein Skandal?

Murswiek: Eine gute Frage. Die Öffentlichkeit sollte die Arbeit des EuGH kritischer beäugen und dort, wo es zu juristisch kaum zu rechtfertigenden Kompetenzausweitungen kommt, protestieren.

Mißbraucht der EuGH seine Kompetenzen?

Murswiek: Man kann das so formulieren – die Rechtsprechung muß sich allein an das Gesetz beziehungsweise an die Verträge halten und darf sich nicht selbst zum Gesetzgeber aufspielen. Allerdings kann man nur dann von Mißbrauch sprechen, wenn man Vorsatz unterstellt.

Handelt das oberste europäische Gericht etwa seit Jahrzehnten „aus Versehen“ so?

Murswiek: Ich will nicht beurteilen, ob sich der EuGH wirklich gezielt über geltendes Recht hinwegsetzt oder ob sein Rechtsverständnis nicht einfach so geprägt ist, daß EU-Recht „dynamisch“ interpretiert werden muß. Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt deutlich gemacht, daß es ein solches Rechtsverständnis nicht mehr akzeptieren will.

Müßte die Politik den EuGH nicht stoppen? 

Murswiek: Eine heikle Frage. Die Politik darf sich nicht unmittelbar in die Rechtsprechung einmischen. Wenn aber über Jahrzehnte eine solche Tendenz zu beobachten ist, dann versagt die Politik in der Tat, wenn sie nicht, etwa durch eine entsprechende Gestaltung der Verträge, einer kompetenzüberschreitenden Rechtsprechung vorbeugt. Der Bundesverfassungsrichter Siegfried Broß hat zum Beispiel schon vor Jahren vorgeschlagen, für die EU einen unabhängigen Kompetenzkonflikt-Gerichtshof zu berufen, der zuständig ist, die Frage der Kompetenzabgrenzung zwischen EU und Mitgliedsstaaten vorzunehmen. Es wäre Aufgabe der Politik gewesen, sich darüber einmal Gedanken zu machen.

Warum ist das nicht geschehen?

Murswiek: Erneut eine berechtigte Frage. Jedenfalls hat jetzt das Bundesverfassungsgericht aus diesem Versäumnis die entsprechenden Konsequenzen gezogen.

Will die Politik den EuGH vielleicht gar nicht aufhalten?

Murswiek: Zumindest hat sie fest geschlafen. – Es ist im übrigen befremdlich, daß die Bundestagsabgeordneten ihrer Selbstentmachtung durch Lissabon ohne jeden Widerspruch zugestimmt haben. Man führe sich vor Augen: Das Bundesverfassungsgericht mußte den Bundestag zwingen, die Rechte zu bewahren, die er freiwillig und unter Verstoß gegen das Grundgesetz aufzugeben bereit war!

Wie soll man in einem parlamentarischen System einem Parlament vertrauen, das sich selbst entmachtet?

Murswiek: Es gibt in der deutschen Politik offenbar so etwas wie ein blindes Vertrauen in die Europapolitik, nach dem Motto: Alles, was dem Ausbau der europäischen Integration dient, ist per se gerechtfertigt.

Dabei übt der Bundestag die Souveränität, die er nach Brüssel zu verschenken bereit war, lediglich treuhänderisch für das Volk aus. Hat das Bundesverfassungsgericht also einen Putsch gegen das deutsche Volk verhindert?

Murswiek: Ich würde keine so drastischen Worte gebrauchen. Ich denke, es ist sinnvoller, in die Zukunft zu schauen und den Bundestag bei der von Karlsruhe verlangten Nachbesserung des Begleitgesetzes zum Lissabon-Vertrag zu unterstützen.

Wie sollen wir das Grundgesetz langfristig schützen, wenn solche Anschläge auf seine Substanz nicht eindeutig benannt werden?

Murswiek: Die Wahrheit ist wie so oft nicht so ganz einfach. Der Vertrag von Lissabon segelt hart an der Grenze des Verfassungswidrigen; so ähnlich hat es Richter Di Fabio ausgedrückt. Natürlich, wenn der durch Artikel 79 Absatz 3 definierte Verfassungskern von Bundestag oder Regierung bewußt verletzt werden würde, dann wäre das in der Tat so etwas wie ein Staatsstreich. Allerdings muß man andererseits bedenken, daß bei der Konkretisierung dessen, was Artikel 79 Absatz 3 noch zuläßt oder nicht, sehr schwierige Rechtsfragen auftreten, und ich möchte niemandem unterstellen, dabei gezielt das Grundgesetz verletzt zu haben. Man hat sich wohl einfach nicht ernsthaft genug mit der Problematik beschäftigt.

Gut 550 Bundestagsabgeordnete und Dutzende von Bundes- und Landesministern, inklusive ihrer Hunderte Fachleute starken Stäbe, haben also einfach nur „nicht richtig aufgepaßt“?

Murswiek: Es sind in der Tat erstaunlich viele Personen gewesen, die offenbar nicht nur eine andere Rechtsauffassung vertreten haben als wir Kläger und jetzt das Bundesverfassungsgericht, sondern die sich auch beratungsresistent gezeigt haben. So hatte der Abgeordnete Gauweiler beantragt, neben den als EU-Enthusiasten bekannten Professoren auch einen Wissenschaftler, der eine kritische Sicht auf den Vertrag von Lissabon hätte vermitteln können, als Sachverständigen einzuladen; der Antrag wurde abgelehnt.

In Italien hat das Volk 1993 auf das völlige Versagen der Politik mit der Beseitigung des etablierten Parteiensystems reagiert. Müßte es nicht angesichts des kollektiven Versagens von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung auch bei uns zu einer tiefgreifenden Konsequenz kommen? 

Murswiek: Ein solches Erdbeben kann nur von der Öffentlichkeit ausgelöst werden. Es wäre also Aufgabe der Medien, darzustellen, daß es sich hier nicht nur um einen Bagatellfehler handelt, wie die Politik uns das gerne verkaufen möchte, sondern um ein Versagen in einer fundamentalen Verfassungsfrage.

Wird sich der Bundestag wenigstens bei der Nachbesserung zum Lissabon-Vertrag um eine Erfüllung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts bemühen, oder wird er erneut versuchen, die Anforderungen des Grundgesetzes auszumanövrieren und Karlsruhe möglichst nur pro forma gerecht zu werden?

Murswiek: Ich möchte da nicht spekulieren. Aber zumindest, was die CSU-Landesgruppe angeht, habe ich von einem erheblichen Umdenken erfahren. Viele Abgeordnete streben nun wirklich eine Optimal- und nicht nur eine Minimallösung bei der Neugestaltung des Lissabon-Begleitgesetzes an.

Der Nürnberger Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider, ursprünglich Verfasser der Gauweiler-Klage, warnte letzte Woche in einem Exklusiv-Beitrag für das JF-Online-Portal: Lissabon sei auch weiterhin eine große Gefahr.

Murswiek: Wenn Lissabon ein Tiger war, der zum Sprung auf die nationale Souveränität ansetzte, dann haben wir ihm die Zähne gezogen. Er kann jetzt nur noch fauchen oder uns umrempeln – wenn wir, das heißt vor allem das Bundesverfassungsgericht, nicht standhaft genug sind.

Falls es Iren, Tschechen oder Polen nicht doch noch gelingt, den Lissabon-Vertrag zu verhindern, dann gilt er also künftig für Deutschland in anderer Weise als für den Rest Europas. Wie kann das funktionieren?

Murswiek: Das Bundesverfassungsgericht hat es leider versäumt, der Bundesregierung aufzutragen, einen völkerrechtlichen Vorbehalt zu machen, durch den sichergestellt wird, daß die enge Interpretation des Vertrages, die Deutschland nun vornehmen muß, dann auch völkerrechtlich verbindlich ist. Es ist in der Tat problematisch, wenn ein völkerrechtlicher Vertrag von einer Seite nach eigenem Gusto ausgelegt wird. Hier ist der Konflikt zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht programmiert.

Den wer bestehen wird?

Murswiek: Das ist die Frage: Wird das Bundesverfassungsgericht tatsächlich seine mit dem Urteil formulierte Position behaupten und notfalls so weit gehen, europäischen Rechtsakten für Deutschland die Gefolgschaft zu verweigern?

Falls Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung beim Lissabon-Vertrag nicht einfach nur „geschlafen“, sondern absichtlich die Augen zugemacht haben, wird Karlsruhe nicht nur den EuGH vor sich, sondern diese drei auch noch im Rücken haben.

Murswiek: Nun, es ist zu hoffen, daß der EuGH unter dem Eindruck dieses Urteils, das vielleicht noch von ähnlichen Entscheidungen in anderen Staaten flankiert werden wird, sich künftig mehr zurückhält.

Ein Wahlausschuß des Bundestages wählt die Verfassungsrichter. Ist nicht zu befürchten, daß das Bundesverfassungsgericht eines Tages einfach mit Richtern ausgestattet sein wird, die diesen Widerstand nicht mehr leisten?

Murswiek: Diesen Fall kann man nicht ausschließen – aber auch nicht voraussagen. Das ist Spekulation. 

Brüssel hat mit der als Lissabon-Vertrag getarnten EU-Verfassung bereits die ablehnenden Volksentscheide in Frankreich und Holland ignoriert. Warum sollte es nun Karlsruhe respektieren? Ist nicht vielmehr zu erwarten, daß man die Teile Lissabons, die nun abgelehnt worden sind, in Zukunft mit einem weiteren Trick durchzusetzen versucht?

Murswiek: Eher glaube ich, daß man versucht, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Alltag zu unterlaufen und doch wieder zu einer extensiven Auslegung des Lissabon-Vertrags zu kommen. Zu befürchten ist also eine Zermürbungsstrategie, die darauf spekuliert, daß das Bundesverfassungsgericht nicht den Atem hat, seine Ansprüche auch langfristig durchzuhalten.

Brauchen also auch wir eine Volksabstimmung über den Lissabon-Vertrag?

Murswiek: Juristisch nein, aber da sich Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung als nicht ausreichend verantwortungsbewußt erwiesen haben, wäre es politisch und moralisch notwendig, nun dem deutschen Volk die Entscheidung zu überlassen.

 

Prof. Dr. Dietrich Murswiek, der renommierte Fachmann für Völker-, Verfassungs- und Umweltrecht (www.dietrich-murswiek.de) berät Abgeordnete der CDU/CSU in staats- und völkerrechtlichen Fragen, hat aber auch schon für Grüne und ÖDP Gutachten erstellt und diese vor Gericht vertreten. Als Bevollmächtigter Peter Gauweilers im Lissabon-Prozeß hat er nun maßgebliche Änderungen für das Begleitgesetz zum Vertrag erwirkt, die den Bundestag zwingen, die Sommerpause zu unterbrechen. Mit den Grenzen der Verfassungsänderung und der Übertragung von Hoheitsrechten, die aus der Unterscheidung von Verfassungsgebung und -änderung resultieren, hat sich Murswiek in etlichen Publikationen beschäftigt. Daß das Prinzip der – europaoffenen – souveränen Staatlichkeit ein unabänderliches Verfassungsprinzips ist, wie vom Bundesverfassungsgericht jetzt anerkannt, hat er schon vor Jahren nachgewiesen, zuletzt in einer umfangreichen Kommentierung der Grundgesetz-Präambel im „Bonner Kommentar zum Grundgesetz“ (C.F. Müller, 2005).

Fotos: Dietrich Murswiek: „Mit diesem Urteil ist ein europäischer Bundesstaat nicht mehr möglich. Nun ist klar, daß die souveräne Staatlichkeit Deutschlands zu den ‘unabänderlichen Verfassungsgütern’ gehört ... Eigentlich müßte das Urteil ein Erdbeben auslösen“, Deutsche Fahne vor dem Reichstag in Berlin: „Es wäre moralisch, nun in einem Referendum dem deutschen Volk die Entscheidung zu überlassen“

 

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