© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/09 10. Juli 2009

Theologie für Tatmenschen
„Botschafter der Zukunft“: Zum 500. Geburtstag des Reformators Johannes Calvin
Christian Vollradt

Der „Frankfurter Zukunftsrat“, jene aktivistische Abspaltung von Roman Herzogs diskret auftretendem „Konvent für Deutschland“ (JF 15/09), ernannte jüngst den Reformator Johannes Calvin, dessen Geburtstag sich am 10. Juli zum 500. Mal jährt, zu einem seiner „Botschafter der Zukunft“. Denn der „Mut, in einer kritischen Zeit einen Aufbruch in einen neuen Glauben, in ein neues Denken ... zu wagen“ zeichne den Schweizer mit französischen Wurzeln aus und mache ihn zu einem Vorbild gerade in der aktuellen Wirtschaftskrise.

Man mag das als rein medialen Gag abtun. Denn zweifelsohne gehört die skurrile Idee in das Reich der Public relations, wo die Verpackung wichtiger erscheint als der Inhalt. Und für solch eine Vereinnahmung eignen sich Tote besonders gut, weil sie sich dagegen nicht zu wehren vermögen.

Im Falle Calvins ist dies jedoch keineswegs neu: Dem stärker von Martin Luther geprägten deutschen Protestantismus wird nicht zum ersten Mal der calvinistische, „westliche“ gegenübergestellt, „weil die christliche Idee im ganzen dort, wesentlich in praktischem Geist aufgefaßt, weniger doktrinär und philosophisch behandelt wird und, nicht mit dem Odium eines Bündnisses mit der Reaktion belastet, nicht in die politisch-sozialen Kämpfe als trennende Kraft hineinwirkt“.

Der Satz stammt allerdings nicht aus der gut geölten PR-Maschine jener Reform-Lobby in der Main-Metropole, sondern aus der Feder des liberalen Theologen Ernst Troeltsch (1865-1923). Der trug ihn vor genau hundert Jahren – anläßlich des 400. Geburtstag Calvins – während einer Ringvorlesung in Heidelberg vor.

Trotz der zeitlichen Differenz zwischen diesen Deutungen steckt in beiden die Bewunderung für eine Konfession, die ein selbstbewußtes, erfolgsorientiertes Tatmenschentum verkörpert. Es sei stärker gegenwartsorientiert, rational und damit eher geeignet, die Herausforderungen der Moderne zu bewältigen, meinte Troeltsch seinerzeit. Dem Luthertum dagegen wohne die strikte Unterscheidung zwischen frommer Innerlichkeit und einer als bedrohlich wahrgenommenen Umwelt inne, die eher zu ertragen als mitzugestalten sei. In dieser Passivität, der bereitwilligen Unterwerfung unter die staatliche Autorität, sah Troeltsch das reaktionäre „Odium“ der lutherischen Theologie.

Der vielfältigen Wirkungsgeschichte Calvins steht eine nicht in allen Einzelheiten gesicherte Biographie gegenüber. Als Jean Cauvin wird er am 10. Juli 1509 im französischen Noyon als Sohn eines im Dienste des Kathedralkapitels stehenden Notars geboren. Wohl 1523 beginnt er sein (Vor-)Studium in Paris. Eigentlich soll er nach dem Willen des Vaters im Anschluß Theologie studieren; nachdem dieser sich jedoch mit dem Kathedralkapitel überworfen hatte, nimmt Calvin das Jurastudium in Orléans auf, das er bis zur Promotion fortsetzt.

Ersten humanistischen folgen bald biblisch-evangelische Studien; trotz seiner Kritik an kirchlichen Mißständen dauert es noch bis zum endgültigen Bruch mit der römischen Kirche. Dieser erfolgt wohl erst ab 1533. Rückblickend spricht Calvin später von einer „unerwarteten Bekehrung“. Der theologische Autodidakt veröffentlicht im März 1536 erstmals seinen berühmten „Unterricht in der christlichen Frömmigkeit“, den er sein Leben lang weiter bearbeiten wird. Er enthält bereits die den späteren Calvinismus prägende Lehre von der doppelten Prädestination, wonach Gott schon vor der Zeit bestimmt habe, wer erlöst und wer in der ewigen Verdammnis enden wird: „Wenn Gott dich für die ewige Seligkeit vorbestimmt hat, dann wird er dir auch die Kraft und Stärke schenken, sich an seine Gesetze zu halten, und Gott wird dann auch deine Arbeit segnen.“

Weil die Anhänger der Reformation in Frankreich zunehmender Verfolgung ausgesetzt sind, verläßt Calvin noch 1536 sein Vaterland und gelangt über Straßburg in die Schweiz, zunächst nach Basel und dann nach Genf. Ohne jede amtliche Ordination übernimmt er dort eine Predigerstelle. Doch zwei Jahre später wird Calvin wegen seiner Radikalität, die bei Teilen der Eingesessenen für Unruhe sorgt, durch den Rat der Stadt ausgewiesen. Der Reformator hatte den Gottesdienst auf Predigt, Gebet und Psalmengesang reduziert, Orgeln, Bilder, sogar Kerzen und Kreuze dagegen aus den Kirchen verbannen lassen.

Nach einer Periode als Seelsorger der französischen Immigranten in Straßburg wird Calvin 1541 vom Genfer Rat wieder zurückgeholt, nachdem dieser sich zur Übernahme der Kirchenordnung bereit erklärt hatte. Damit hat sich Calvin in seinem wesentlichen Bestreben durchgesetzt, eine strenge Kirchenzucht zu etablieren. Erst bei der Ratswahl 1554 jedoch gelangen seine Anhängern vollständig an die Macht. Ein Jahr später können die durch den Zustrom französischer Flüchtlinge entstehenden Unruhen genutzt werden, Calvins interne Widersacher zur Flucht zu drängen, zu verhaften oder gar zu enthaupten. Kurz danach – 1559 – wird Johannes Calvin Genfer Bürger. Am 27. Mai 1564 stirbt er, schwer an Rheuma und Tuberkulose erkrankt.

Calvins Ekklesiologie war in der Tat neu. Der Kirchentyp, der ihm vorschwebte, unterschied sich von den drei bestehenden sowohl hinsichtlich seiner internen Organisation als auch im Bezug auf sein Verhältnis zur weltlichen Obrigkeit. Während die römische Kirche daran festhielt, daß der Papst den weltlichen Autoritäten übergeordnet ist, sich in England ab 1532 eine Staatskirche etabliert hatte und die Lutheraner in Deutschland das landesherrliche Kirchenregiment entwickelten, erstrebte Calvin eine Kirche, die den Staat in seiner eigenen Funktion respektierte, andererseits jedoch als sein selbständiges Gegenüber auftreten sollte. Innerhalb dieser Kirche herrschte jedoch mit Hilfe der „Älteren“ ein überwachungsstaatliches Regiment, dem die strikte Einhaltung eines züchtigen Lebenswandels aller Gemeindeglieder oblag. Spätestens hier bricht der moderne, liberale Rekurs auf Calvin verständlicherweise ab. Der calvinistischen Sozialdisziplinierung stand schon Ernst Troeltsch aller sonstigen Bewunderung zum Trotz reserviert gegenüber.

So sehr das damalige Genf eine Oligarchie und keine Volksherrschaft war, vertrat der Reformator weit stärker aristokratische denn demokratische Vorstellungen. Weil Calvin allerdings die selbstverwaltete Gemeinde propagierte, gilt er noch heute als ein Wegbereiter der westlichen Demokratie. Daß hier auch von modernen Theologen weit weniger zur Entmythologisierung angehoben wird als bezüglich der These vom calvinistischen Einfluß auf den „Geist des Kapitalismus“ (Max Weber), verwundert kaum.

Foto: Johannes Calvin (1509–1564): Die Vorbestimmung des Menschen zur Seligkeit ist an seiner Fähigkeit zur strengsten Pflichterfüllung ablesbar

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