© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/09 17. Juli 2009

Bald eine Minderheit im eigenen Land
China: Die Führung in Peking wird alle Unabhängigkeitsbestrebungen der Uiguren weiter brutal unterdrücken / Angst vor Präzedenzfall
Günther Deschner

Den 60. Gründungstag der Volksrepublik China will die alleinherrschende KP am 1. Oktober als großes Spektakel inszenieren und dabei der Welt die Illusion einer gefestigten und harmonischen Gesellschaft vorspiegeln. Die Gewaltausbrüche der letzten Wochen in der nordwestlichen Provinzhauptstadt Ürümqi zeigen, daß Peking aber die schweren Probleme im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang genausowenig gelöst hat wie die Gegensätze in Tibet. In dem Gebiet, das viereinhalbmal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland, leben etwa 20 Millionen Menschen. Neben zahlreichen Minderheiten und eingewanderten Chinesen derzeit etwa acht bis neun Millionen Uiguren.

Viele Angehörige des sunnitischen Turkvolks fühlen sich von der Pekinger Herrschaft, die sie als Fremdherrschaft empfinden, und dem massenhaften Zustrom von Chinesen bedrängt. Der anhaltende Konflikt lasse sich „einfach mit zwei Zahlen erklären – der 6 und der 40“, konstatierte ein uigurischer Journalist. Die 6 bezeichne den Prozentsatz, den die Chinesen 1949 ausmachten, die 40 sei der Prozentsatz von heute: „Der Zustrom chinesischer Einwanderer ist so groß, daß der Tag nicht mehr fern ist, an dem die Uiguren in ihrer Heimat zur Minderheit geworden sind.“

Selbst der KP-Chef der Region befürchtet inzwischen eine „ethnische Explosion“ zwischen den sich fremden Volksgruppen. Die meisten wären wohl mit tatsächlicher kultureller Autonomie und einem besseren Zugang zum heimischen Arbeitsmarkt zufrieden. Kleinere Gruppen wollen auch eine unabhängige „Republik Ostturkestan“ wiederherstellen, die es 1933 und 1944 bis 1946 gegeben hatte. Doch das ist nicht die einzige Gefahr für die Peking, denn China ist ein Vielvölkerstaat.

Zwar sind etwa 1,2 Milliarden Menschen (92 Prozent) der Bevölkerung Han-Chinesen. Doch 100 Millionen gehören einer von 50 völkischen Minderheiten an: Die zahlenmäßig größte sind die in Südchina lebenden Zhuang (16 Millionen). Ihnen folgen die Mandschuren (11 Millionen), die muslimischen Hui (10 Millionen), die den Vietnamesen verwandten Miao (9 Millionen) und die muslimischen Uiguren. Die 5,5 Millionen Tibeter sind lediglich die zehntgrößte Volksgruppe. Daneben gibt es weitere kleinere Minderheiten wie Mongolen, Kasachen, Kirgisen oder Koreaner.

Offiziell genießen sie weitgehende Autonomie, es gibt Religionsfreiheit, Förderung ihrer Sprache und Ausnahmen von der Ein-Kind-Politik. Doch in der Realität müssen sie sich der hanchinesischen Leitkultur beugen. Mao Zedong ließ ihre Gebiete systematisch sinisieren. Hochchinesisch wurde in den Schulen zur Unterrichtssprache, und Ehen zwischen den Völkern wurden staatlich gefördert. Einen „Schmelztiegel“ nennen das die einen; andere sprechen von „ethnischer Verdünnung“. Daß Minderheit auch Minderwertigkeit bedeutet, hat in China Tradition. Seit Jahrtausenden haben die Han nie viel für die Völker außerhalb ihres Reichs der Mitte übrig gehabt. Einige mußten den Kaisern Tribut zahlen, was die Han „Geschenke“ nannten. Daraus leiten sie bis heute territoriale Machtansprüche ab, in Tibet ebenso wie in Xinjiang. Die Kommunisten verschärften diese fordernde Attitüde, hinzu kommt wirtschaftliche Benachteiligung.

Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 nutzt Peking die internationale Angst vor Terroristen, um seine Politik in Xinjiang offiziell zu rechtfertigen. 2008 warnte die Regierung, islamistische Terroristen planten Anschläge auf die Olympischen Spiele in Peking. China macht die Separatisten für rund 300 Anschläge mit mehr als 160 Toten seit 1990 verantwortlich. Vier Uiguren-Gruppen wurden zu terroristischen Vereinigungen erklärt. Menschenrechtler kritisieren, China unterdrücke die Volksgruppe mit Folter, Massenverhaftungen und Todesurteilen. Seit Mitte der neunziger Jahre wurden laut Amnesty International über 3.000 Uiguren verhaftet und 200 hingerichtet.

Aus den turkmuslimischen Ex-Sowjetrepubliken können die Uiguren keine Hilfe erwarten. Der „Völkermord“-Vorwurf des türkischen Premiers Recep Tayyip Erdoğan wurde empört zurückgewiesen. Im Gegensatz zu den Tibetern haben Uiguren im Westen keine vergleichbare Lobby. Die USA hatten Uiguren in Guantánamo gefangen gehalten, in der Mehrzahl wohl grundlos.

Die staatliche Brutalität im dünnbesiedelten Xinjiang besitzt auch eine strategische und wirtschaftliche Komponente: Das Gebiet ist Chinas bedeutendster Gas-Lieferant und verfügt über große Erdöl-, Kohle-, Gold- und Uranvorkommen. Zudem ist es Hauptanbaugebiet für Baumwolle. Auch wenn die Uiguren oder Tibeter gegen das Milliardenvolk der Chinesen nicht „gewinnen“ können – die Volksrepublik muß dennoch eine ausgleichende „Idee“ für ihre rebellischen Randprovinzen finden.

Foto: Uigurin mit Baby vor chinesischem Militär: Ausgleich notwendig

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